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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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verstanden, er bietet uns Europäern Partnerschaft gleichen Ranges mit seiner eigenen Nation an – ein Eindruck, den ich später nur noch ein einziges Mal gehabt habe, nämlich bei Gerald Ford. Wir liebten Kennedy und mit ihm Amerika. Als er ermordet wurde, waren Bestürzung und Trauer in Deutschland nicht geringer als in seinem eigenen Land. Zugleich aber kam der erste Hauch jener Angst vor der politischen Zukunft auf, welche die Deutschen seither des öfteren heimgesucht hat, einmal schwächer, das andere Mal stärker.
    Am Abend des 22. November 1963 hielt ich eine Rede auf einer sozialdemokratischen Parteiversammlung in Hamburg-Winterhude. Während ich sprach, reichte mir jemand einen Zettel mit der Nachricht von Kennedys Ermordung auf das Rednerpult. Ich unterbrach meine Rede und las die Nachricht vor. Es war unmöglich, weiterzusprechen oder weiterhin zuzuhören. Ich sagte: »Dieser Tod erschüttert uns alle. Er verändert die Welt. Laßt uns still nach Hause gehen.« Die Menschen wirkten, als seien sie von einer Keule getroffen: dumpfe Verstörung, verständnisloses Entsetzen und Trauer. Sie erhoben sich und verließen schweigend den Saal. Ein Stern war erloschen. Nie waren wir der amerikanischen Nation so nahe gewesen wie an diesem Abend.

    Johnson stürzt Erhard
    Die Johnson-Jahre haben manchen amerikanischen Enthusiasmus desillusioniert; in der Rückschau wird das immer deutlicher. Es dauerte freilich einige Jahre, bis die Ernüchterung im eigenen Land, dann der Widerstand gegen das Engagement in Vietnam, schließlich die Verzweiflung über die sinnlosen Opfer auf den südostasiatischen Reisfeldern von der Jugend Amerikas auf Europa und auf Deutschland übergriffen. Nach dem Tode Kennedys war zunächst einfach nur eine Leere eingetreten. Präsident Johnson blieb hinter den Erwartungen, die sein Vorgänger geweckt hatte, in unseren Augen weit zurück. Trotz der Propagierung der »great society« und trotz der ohne Zweifel wesentlichen sozialpolitischen Fortschritte, mit denen die amerikanische Gesellschaft in den sechziger Jahren den europäischen Wohlfahrtsstaat nachzuahmen schien, fehlte die Großzügigkeit – jedenfalls Europa gegenüber.
    Unter Johnson gab es Mitte der sechziger Jahre zwei Auseinandersetzungen mit der amerikanischen Administration. Der erste Fall hing mit dem noch von Kennedy stammenden Projekt einer multinationalen Flotte von Trägerschiffen für Atomraketen zusammen (Multi-Lateral Force, MLF). Ich vermutete damals ein doppeltes Motiv bei den Amerikanern: Durch eine Beteiligung der Europäer sowohl an der nuklearstrategischen Abschreckung als auch an der Disposition über diese Nuklearwaffen konnte zum einen die Verwirklichung der Zweisäulentheorie ein gutes Stück vorangetrieben werden; zum anderen sollte das Projekt wohl der nach der kubanischen Raketenkrise immer deutlicher werdenden Distanzierung Frankreichs von der NATO begegnen. Die Raketenkrise hatte allen Europäern unmißverständlich vor Augen geführt, daß der Frieden Europas vollkommen von rein amerikanischen Entscheidungen abhing. De Gaulle hatte im Augenblick der dramatischen Zuspitzung der Krise Frankreichs Schicksal eindeutig mit demjenigen der USA verknüpft; er handelte, soweit ich erkennen konnte, als ein mustergültiger Verbündeter, ohne nach Details zu fragen.
    Aus meiner Zeit im Straßburger Europaparlament kannte ich jedoch einige der französischen Anhänger de Gaulles und deren
Ansichten über Amerika; deshalb stellte ich mir Anfang der sechziger Jahre vor, de Gaulle würde versuchen – nicht zuletzt wegen der Erfahrung der Kubakrise –, Frankreich aus der totalen strategischen Abhängigkeit von den USA zu lösen. Mir war dieses Streben der Gaullisten in seinen Konsequenzen nicht geheuer, da es einen tiefen Keil in die Allianz hineintreiben konnte. Auch in Deutschland entwickelte sich, vor allem bei der CSU in Bayern, ein ähnliches, an de Gaulle orientiertes Denken. Die Exponenten der CSU mit Franz Josef Strauß an der Spitze galten in Bonn als Sekundär-Gaullisten, während wir anderen zu den sogenannten Atlantikern gezählt wurden. Nachdem de Gaulle 1966 Frankreich brüsk aus der gemeinsamen, integrierten Militärorganisation der Allianz herausgenommen hatte, flaute der deutsche Sekundär-Gaullismus ab.
    Das MLF-Projekt war mit fast unlösbaren Schwierigkeiten und daher mit endlosen Diskussionen verbunden, sowohl in den USA als auch in Europa; England legte einen eigenen, modifizierten Vorschlag vor

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