Menschen und Maechte
(Allied Nuclear Force, ANF). Sollte es multinational gemischte Besatzungen geben? Wer sollte über den Einsatz entscheiden? Sollten den beteiligten europäischen Regierungen gegenüber einem amerikanischen Oberbefehl Vetorechte eingeräumt werden? Und, falls diese Fragen bejaht wurden, wäre die MLF überhaupt funktionstüchtig? Würde sie gegenüber Moskau ein glaubwürdiges Abschreckungselement werden können?
Auch in der deutschen Sozialdemokratie nahm diese Auseinandersetzung einen immer breiteren Raum ein. Der von mir sehr verehrte ehemalige Hamburger Bürgermeister Brauer, unbezweifelbar ein enger Freund der USA (er war während der Hitlerzeit in die USA emigriert), war der führende Exponent der Gegner. Ich selbst war aus antigaullistischen Motiven ein Befürworter; aber viel wichtiger war, daß sich Fritz Erler, außenpolitisch damals der führende Kopf der Sozialdemokratie, am Ende zur Bejahung durchrang.
Der Bundesparteitag 1964 folgte Fritz Erler und bereitete Brauer an dessen politischem Lebensabend eine bittere Niederlage. Aber wenige Monate später, im Dezember 1964, ließ Johnson über Nacht das Projekt ersatzlos fallen. Wir, die wir uns für ein strategisch wichtiges Anliegen der USA eingesetzt hatten, waren düpiert
und verloren zu Hause an Ansehen. Damals begriff ich zum ersten Mal, daß es innenpolitisch riskant sein kann, sich engagiert für eine Politik der Führungsmacht einzusetzen, wenn auf deren Stetigkeit kein Verlaß ist.
Der zweite Fall ereignete sich im Sommer 1966. Diesmal ging es um die Erneuerung oder Verlängerung der auslaufenden deutsch-amerikanischen Vereinbarungen über einen Devisenausgleich (Offset) zugunsten der USA, konkret gesagt, um eine Entlastung der amerikanischen Zahlungsbilanz, die auch durch die Ausgaben für die in Deutschland stationierten Truppen aus dem Gleichgewicht gekommen war. Die USA erbrachten derartige Aufwendungen für ihre Truppen und sonstigen militärischen Einrichtungen auch in Frankreich, England, Italien, Belgien und so weiter; diesen Staaten wurde jedoch kein »Devisenausgleich« abgefordert. Deshalb betrachtete ich diese ausschließlich an die Bundesrepublik gerichtete Forderung als eine Camouflage für die Einforderung von Besatzungskosten, die gewiß nicht mehr zeitgemäß waren; bei freundlicherer Interpretation war es eine lediglich dem deutschen Partner auferlegte Kontribution.
Bundeskanzler Erhard stand Ende September 1966 vor einem Besuch bei Präsident Johnson; seiner Abreise ging eine Bundestagsdebatte voraus, die auch eine breite amerikanische Pressekampagne betraf, welche man in den USA im Vorfeld des Besuches entfaltet hatte, um Erhard unter Druck zu setzen und auf Zugeständnisse einzustimmen. Die amerikanische Regierung wollte sich auf ein nukleares »Mitbestimmungsrecht«, das die Bonner Regierung forderte, nicht einlassen. Statt dessen verlangte man höhere Zahlungen von Bonn, die teils als Devisenausgleich, teils als Bezahlung für amerikanische Waffen und Geräte deklariert wurden, welche die USA der Bonner Regierung in großem Umfang aufdrängte.
In dieser Debatte schlug ich vor, die von Erhards Regierung erhobene Forderung nach nuklearer »Mitbestimmung« anläßlich des Besuches aufzugeben, neue Verpflichtungen im Rahmen des Devisenausgleichs von Juli 1964 an aber nicht mehr in der bisherigen Höhe einzugehen. Die Bundesregierung hielt nichts von dieser Empfehlung.
Der Besuch bei Johnson endete mit einer Demütigung für Erhard. In einer Bundestagsdebatte wenige Tage nach seiner Rückkehr verlangte ich, er möge den Umfang der Verpflichtungen, die er bestätigt hatte oder neu eingegangen war, auf den Tisch legen. Da Erhard das Konto der deutschen Leistungsfähigkeit offenbar überzogen hatte, konnte er einer solchen Aufforderung nicht nachkommen.
Erhard war zu weich, um Johnsons Zumutungen abzulehnen. Das Ergebnis seiner Verhandlungen auf Johnsons Ranch in Texas war nicht akzeptabel und wurde als zusätzliches Symptom seiner Unzulänglichkeit aufgefaßt. Wenige Wochen später ließ seine eigene Partei ihn fallen, und zum ersten Mal seit 1930 kam es wieder zu einer sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung.
Ich glaube nicht, daß Johnson und seine Berater willentlich zum Sturz Erhards beitragen wollten; vermutlich haben sie dessen innenpolitische Situation gar nicht in Rechnung gestellt, denn sonst wären sie ihm entgegengekommen und hätten ihm geholfen, der deutschen Öffentlichkeit und dem Bundestag einen Erfolg
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