Menschenfänger
sie neue Medikamente bekommen?«
»Nein. Eine Einweisung ins Krankenhaus.« Sabine fing aus heiterem Himmel an zu weinen. Das war so untypisch, dass Nachtigall zutiefst erschrak.
»Gut. Ich bin in einer halben Stunde bei dir!«
Als er bei Sabine ankam, hatte sie sich schon wieder beruhigt. Ihre Augen wirkten verquollen, aber sie schniefte nicht mehr. Nachtigall nahm sie in den Arm und drückte sie fest.
»Wo ist sie denn?«
»In ihrem Zimmer. Sie schaut fern.«
»Ich spreche mit ihr – hast du irgendetwas zu essen für mich?«
Das Lächeln kehrte in das Gesicht seiner hübschen Schwester zurück, die zu ihrem Glück nicht so groß war wie er, aber dafür eine vollendet weibliche Figur besaß. Sie funkelte ihn aus ihren ebenfalls grünen Augen amüsiert an. »Selbstverständlich, Herr Hauptkommissar. Mal wieder keine Zeit zum Essen gehabt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein – heute nicht. Du weißt schon. Wir jagen diesen Klaus Windisch. Da bleibt kaum mal Zeit, auf die Toilette zu gehen.«
»Oh, dann muss ich dafür sorgen, dass du bei Kräften bleibst. Bestimmt wird mir etwas einfallen.«
»Ich gehe dann mal …«
Tante Erna, eine zierliche Frau, die sich stets sehr aufrecht hielt, saß in ihrem Lieblingssessel und sah sich einen Krimi im Fernsehen an.
»Peterchen! Wie schön, dich zu sehen!«, begrüßte sie ihren Neffen hocherfreut und schaltete das Gerät aus.
»Nun wirst du nicht erfahren, wer der Mörder war!«
»Das weiß ich doch längst! Alle wissen es! Nur die Polizei tappt mal wieder im Dunkeln!«
Peter Nachtigall zog sich einen Stuhl heran und nahm neben Tante Erna Platz.
»Sabine hat mich angerufen.«
»Dachte ich mir schon.«
Er nahm die knochige Hand der alten Dame in seine großen, weichen Pranken und wärmte sie.
»Sabine hat gesagt, du bist ernsthaft krank.«
»Ja. So ist das wohl. Das Problem besteht nur darin, dass ihr es nicht gewusst habt – ich aber schon. Deshalb seid ihr jetzt so betroffen. Ich bin 85 Jahre alt. Nicht gerade ein biblisches Alter, aber wer will schon so alt werden wie Methusalem?«
»So ernst?«, fragte Nachtigall mit belegter Stimme.
»Irgendwann schon. Ich habe neulich im Radio ein Lied gehört, da haben sie gesungen, dass das Leben am Ende immer tödlich ist. Und das stimmt ja auch. Ein bisschen Zeit bleibt mir schon noch, um euch im Auge zu behalten!« Sie drohte mit dem ausgestreckten Zeigefinger.
»Und was ist es genau?«
»Die Leber. Das ist eine Medikamentennebenwirkung. Manche haben es bekommen, andere nicht. Nun guck nicht so – ich gehe für ein paar Tage ins Krankenhaus und komme zurück, fit wie eh und je.«
»Wogegen war das Medikament?«
»So, nun pass mal gut auf, Peterchen! Es gibt Dinge im Leben einer erwachsenen Frau, die ihre Verwandtschaft nichts angehen. Und in diese Kategorie fällt meine Lebererkrankung. Basta! Sollte ich irgendwann einmal das Bedürfnis haben, mich dir mitzuteilen, lass ich dich das wissen!«, stellte sie energisch fest.
Peter Nachtigall sah ein, dass er gegen diesen Dickkopf nichts ausrichten konnte. Gemeinsam kehrten sie zu Sabine zurück, wo ein Teller Pasta mit Gemüse auf ihn wartete.
Immer wieder wanderten seine Augen über Tante Ernas Gesicht und er erkannte, was Sabine gemeint hatte. Ihre Haut schimmerte gelblich.
Tante Erna selbst war fröhlich und unbeschwert.
»Bearbeitest du den Fall Windisch?«, fragte sie.
»Ja. Aber im Moment haben wir überhaupt noch keine Spur.«
»In den Nachrichten haben sie gemeldet, dass er gleich nach der Flucht ein junges Mädchen ermordet habe. Stimmt das?«
»Ja. Es sieht wirklich ganz danach aus.«
»Was für ein Ding. Erst verhilft ihm eine Frau vom Wachpersonal zur Flucht, die bringt sich um, und der Entflohene tötet auch sofort. Brrrr!«
»Wir wissen noch nicht genau, wie sie ihm geholfen hat. Aber wir kriegen es raus.«
»Woher weißt du eigentlich, dass der Kerl nicht gerade in diesem Moment wieder ein Opfer quält?«
24
Peter Nachtigall fuhr zum Sport.
Nur eine knappe Stunde Zeit würde ihm bleiben, aber das war besser als nichts.
Nach der Erwärmung stellte er sich die Beinpresse ein und zählte beim ersten Durchgang ordentlich mit. Seine Augen wanderten über die müden Gesichter seiner Mitsportler, suchten nach Conny. Sie ist in Bern!, schimpfte er mit sich, du wirst sie hier kaum finden!
An einem der Seilzüge hatten sich zwei Freundinnen getroffen und unterhielten sich angeregt – der Sporttherapeut beobachtete die beiden
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