Menschenfänger
vor.
25
Donnerstag
Alexandra Legner trat an ihren Briefkasten heran und entnahm ihm einen Stapel Post und Werbung. Leise fluchend versuchte sie, alles in einen transportablen Turm zu schichten, warf sich ihren Rucksack über die Schulter und begann, beim Treppensteigen die Briefe zu sortieren, um herauszufinden, ob sich Rechnungen zwischen der privaten Post versteckten.
Die blonde Frau arbeitete bei einem Lebensmittelmarkt am Rande der Stadt. Ihr Verdienst war eher schmal, aber wenn nicht gerade eine überraschend hohe Stromrechnung ihr einen Strich durch die Kalkulation machte, konnte sie davon leben. Für sich selbst benötigte sie nicht viel: Ihre Haare ließ sie schon seit Jahren einfach wachsen und band sie während der Arbeit zu einem üppigen Zopf zusammen. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Mutter, die in einem Pflegeheim betreut werden musste. Diagnose: Alzheimer. Ihr Vater war den Anforderungen, die es mit sich brachte, eine verwirrte Frau zu versorgen, rasch nicht mehr gewachsen – aber das Heim war teuer. Alexandra Legner steuerte ihren Anteil an den Kosten ohne zu murren bei. Das, dachte sie, war sie ihrer Mutter schuldig.
Fast wäre sie über den jungen Mann gestolpert, der auf dem kalten Steinfußboden saß und offensichtlich eingeschlafen war.
»Oh – entschuldigen Sie bitte!«, murmelte er schlaftrunken und zog seine Beine näher an den Körper heran.
»Ist ja nichts passiert«, antwortete sie freundlich und wollte rasch weitergehen. Es war spät, sie hatte Hunger und spürte diese bleierne Müdigkeit, die sich bei ihr nach einem anstrengenden Arbeitstag ausbreitete.
»Sie haben nicht zufällig einen Stift und ein Stück Papier dabei?«
»Nein.« Sie nahm den nächsten Treppenabsatz in Angriff.
»Ich war nämlich mit meiner Tante verabredet – und nun sitze ich schon seit Stunden hier und warte vergeblich. Mir ist saukalt, aber vielleicht habe ich was falsch verstanden, mich in der Uhrzeit geirrt. Wenn ich jetzt gehe, kommt sie vielleicht und glaubt, ich habe sie versetzt. Dann ist sie sicher sauer, und das bringt mir dann wieder jede Menge Ärger. Wenn ich ihr aber eine Nachricht hinterlasse, zum Beispiel an ihrer Tür, wüsste sie, dass ich mich nur rasch aufwärme und was essen gehe. Sie würde sich keine Sorgen machen. Alles wäre in Ordnung.«
Alexandra Legner hatte kaum registriert, dass der Fremde mit ihr bis ins nächste Stockwerk gestiegen war.
»Es ist meine Lieblingstante und es täte mir leid, sie zu verletzen. Ältere Leute reagieren manchmal hypersensibel.«
»Ja«, gab sie zurück. Ihre Mutter erkannte nur noch selten ihre Familienangehörigen, aber oft weinte sie hemmungslos und ließ sich nur schwer beruhigen. Niemand kannte den Grund für diese plötzlichen Ausbrüche tiefster Traurigkeit.
Vor ihrer Wohnungstür angekommen war der Fremde noch immer an ihrer Seite.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und seufzte.
»Gut. Ich werde Ihnen einen Stift und einen Zettel besorgen. Vielleicht habe ich sogar noch einen Merkzettel. Sie wissen schon, einen mit Klebestreifen.«
Die Tür sprang auf – und im selben Moment drängte sich der Mann an ihr vorbei hinein und schloss sie hinter ihnen.
»Hei – so geht das aber nicht!«, empörte sie sich noch, dann verschloss ihr ein Streifen Klebeband den Mund.
Stunden später, nachdem er ein gutes Essen genossen hatte, warf er der Toten auf dem Bett noch einen flüchtigen Kuss zu, trat in den Flur hinaus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Den Schlüssel mit dem großen orangefarbenen Gummibärchen als Anhänger steckte er ein.
Beschwingt lief er die Treppe hinunter und gab sich ganz den euphorisierenden Erinnerungen an die letzten Stunden hin. Er fühlte sich leicht und staunte über die Kraft und die unstillbare Gier, die sich in den Jahren im Gefängnis angestaut hatten. Die einzige unbehagliche Frage, die auf dem Rückweg in sein Versteck immer wieder störend in seinen Gedanken rumorte war, wie lange Hildegard wohl noch diesen ganzen Humbug glauben würde, den er ihr aufgetischt hatte, und was er mit ihr anfangen sollte, wenn sie ernsthafte Zweifel bekäme.
26
Die Beisetzung von Evelyn Knabe konnte man mit Fug und Recht als schmucklos bezeichnen.
Der Sarg in der kleinen Kapelle trug eine einzelne weiße Lilie.
In der ersten Reihe hatte Frau Beyer Platz genommen, den Rücken steif, das Gesicht stur geradeaus, tränenlos. Der Rest der Stühle in dieser Reihe war frei geblieben. Mit großem Abstand zur Mutter
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