Menschenfänger
hatte ergeben, dass seit Dienstag der vorletzten Woche niemand mehr Frau Knabe gesehen hatte, niemand wusste etwas über einen geplanten Urlaub, und sie hatte auch bei niemandem die Wohnungsschlüssel hinterlassen. Der Briefkasten quoll bereits über, aber dem hatte bisher keiner der Nachbarn Bedeutung beigemessen.
So beschloss die kleine, aufgeregte Versammlung, den Hauswart zu informieren.
3
Vor Begeisterung hätte Klaus Windisch am liebsten in die Hände geklatscht und albern herumgetanzt. Doch das wäre natürlich ein zu auffälliges Verhalten gewesen – und warum sollte er so dumm sein, seinen Erfolg durch törichte Freudenbekundungen aufs Spiel zu setzen? Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, war er selbst erstaunt, wie einfach es im Grunde war.
Er war raus!
Einfach so durch die Tür in die Freiheit spaziert!
Warum machten das denn nicht alle so?, fragte er sich und beantwortete sich die Frage gleich selbst: Weil sie nicht wussten, wie man es anstellen musste. Aber ich, ich weiß, wie es geht!
Klaus Windisch wusste auch, dass es ihm schon immer geholfen hatte, so auszusehen wie Muttis liebster Schwiegersohn. Die dichten braunen Haare waren modern geschnitten, immer frisch gewaschen und penibel gestylt. Fettige, ungepflegte Haare ließen einen leicht schmierig aussehen und schon war das Kapital verspielt, wusste er. Sein Gesicht war freundlich und offen, seine stets leuchtenden Augen verliehen ihm etwas unwiderstehlich Lausbubenhaftes. Der Mund lächelte meist, und die vollen Lippen ließen alle Worte wie reine Wahrheit klingen, die Nase hatte genau die richtige Länge, und seine klaren, dunkelgrauen Augen sahen sein Gegenüber immer mit dem exakt dosierten Maß an Vertrauenswürdigkeit und Sehnsucht an, das ihn sofort und überall beliebt machte. Bei seiner Arbeit in der Wäscherei hatte er sorgfältig darauf geachtet, seine Hände und Nägel geschmeidig zu halten. Eine duftende Pflegeseife und eine reichhaltige Handcreme hatten für zarte, weiche Haut ohne Einrisse oder gar abgerissene Nägel gesorgt. Steckte er, wie jetzt, im Anzug, konnte man ihn ohne Weiteres für einen Anwalt oder Banker halten.
Der Zeitpunkt war wirklich gut gewählt. Schon bald würde der prominente Mitbewohner, dieser rechte Anwalt, viel Medienaufmerksamkeit auf sich und die Anstalt ziehen. Das hätte die Dinge unnötig verkompliziert.
Schade, überlegte Klaus Windisch und grinste schief, schade, dass ich nicht dabei sein werde, wenn hier das Chaos ausbricht. Aber vielleicht brachten die Lokalnachrichten später noch etwas über seine spektakuläre Aktion, tröstete er sich, dann würde er schon bei Evelyn auf der Couch sitzen und ihr wortreich die letzten Ersparnisse abnehmen.
Zügig entfernte er sich von dem großen, grauen Gebäude, warf nicht einen Blick zurück, nickte im Vorbeigehen freundlich den Leuten auf der Straße zu und war in Richtung Kahren verschwunden. Drei Kilometer Fußweg, und er hatte die Stadt erreicht, in die er Angst und Schrecken tragen würde.
4
Der herbeigerufene Hauswart besah mit leichtem Ekel die sich windende Bescherung und fuhr ratlos mit allen zehn Fingern durch den Restbestand an langem, weißem Haar.
»Ich kann nicht einfach so die Tür aufsperren! Stellen Sie sich mal vor, ich mach das bei Ihnen! Das wäre Ihnen doch auch nicht recht!«, protestierte er und versuchte, auf eine Lösung zu kommen. All seine Versuche, die anderen Mieter wieder in ihre Wohnungen zu scheuchen, waren fehlgeschlagen, und nun gebärdeten sie sich so hysterisch, als ginge von den paar Maden eine gesundheitliche Gefährdung exorbitanten Ausmaßes aus. Am wahrscheinlichsten war doch, dass Frau Knabe noch vor ihrer Abreise den Müll runterbringen wollte und es dann schlicht vergessen hatte, als sie ihre Koffer nach unten trug. Dann war dieses Gewürm nicht sein Problem.
»Aber sie hat alle Fenster offen! Sie glauben doch nicht, sie fährt in Urlaub und lässt alle Fenster einladend weit auf, damit Einbrecher einsteigen können!«, schrillte die Stimme von Frau Weißgerber an sein Ohr.
»Hat sie vielleicht auch nur vergessen, also ich meine die Fenster zu schließen. Passiert doch mal. Taxi hat geklingelt – und da ist sie runtergestürmt. Außerdem wird wohl kaum einer mit so einer langen Leiter zum Einbrechen vorbeikommen! Das ist viel zu auffällig!«
»Ihr Auto steht unten auf dem Parkplatz!«, beharrte Frau Just.
»Taxi, sage ich doch! Am Flughafen sind die Parkgebühren verdammt hoch, da ist es
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