Menschenfänger
die gesamte Abrechnung für Bruschings IT-Unternehmen in die Hand genommen.
Nachtigall seufzte.
Alle Medikamenteneinnahmen und -ausgaben liefen über ihren Schreibtisch, mit ihrer Ausbildung war sie auch in der Lage, kompetent Entscheidungen für das Unternehmen ihres Mannes zu treffen. Praktisch, so blieb alles in der Familie – unpraktisch, wenn der Gatte lieber frei über seine Finanzen verfügen wollte, überlegte der Hauptkommissar und fragte sich sofort, ob das wieder ein Beweis für sein eingeschränktes Denken war. Schließlich konnte es doch auch so sein, dass der Gatte mit einer solchen Regelung ganz zufrieden war. So wie diese außereheliche Beziehung nicht bedeuten musste, dass er seine Frau nicht liebte, mahnte seine innere Stimme kritisch.
Der Mauszeiger huschte über die verschiedenen Links und blieb eher zufällig an einem unscheinbaren Zweizeiler hängen. Peter Nachtigall klickte ihn an und starrte minutenlang auf die Bilderfolge, die sich auf seinem Monitor geöffnet hatte. Spießig oder nicht, dem würde er nachgehen!
Dann machte er sich eine kurze Notiz, zerrte die Jacke von der Stuhllehne und rief schon im Gehen »Ich bin dann noch mal weg!«, bevor ihm einfiel, dass Michael Wiener bei den Eltern von Franka Lehmann war. Sekunden später lief er über den Parkplatz zu seinem Wagen.
Zügig durchquerte er die Stadt und wählte den Stadtring als schnellste Verbindung nach Peitz.
»Das wär ja ein Ding!«, flüsterte er immer wieder vor sich hin. Kurz vor der Kreuzung in Richtung Naundorf überwogen wieder die Zweifel. »Das kann nicht sein! Das würde er nicht wagen! So sicher kann er sich nicht gewesen sein!«
Kurz vor dem Ortseingang zu dem idyllischen Spreewalddorf wurde er geblitzt.
»Gefahr im Verzug!«, rief er dem Starenkasten zu und preschte weiter voran.
Schon kam der Ortsrand in Sicht.
»Das wär ja wirklich ein Ding!«
54
Paula Brusching hatte ihre Erinnerung wiedergefunden. Doch dieser Erkenntnisgewinn führte nur dazu, ihr endgültig die Hoffnung auf Rettung zu nehmen.
Sie weinte.
Weinte aus einer Mischung aus Wut und Verzweiflung. Die Kopfschmerzen nahmen dabei noch weiter zu, und nun war auch noch die Nase verstopft, was die Atmung zur Qual werden ließ. Immerhin hatte sie es in den letzten Stunden geschafft, sich vom Rücken auf die linke Seite zu drehen. Das brachte dem gequetschten Armen etwas Erleichterung und war graduell bequemer, als immer in der gleichen Position liegen zu müssen. Nun bemühte sie sich, durch Reiben über den Boden das widerliche Klebeband abzurubbeln. Sie spürte, wie sie dabei auch die Haut an ihrer Wange abrieb, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen. Mit Sicherheit hatte sie bereits drei oder vier Einnahmen verpasst, und ihr war sehr bewusst, dass sich ihr Zustand nun rapide verschlechtern würde. Dies war ihre letzte Chance.
Wenn sich nur endlich dieses Klebeband ablöste! Sie rieb weiter, versuchte, das Brennen auf der Wange zu ignorieren.
Sie würde schreien, schreien bis zu ihrem letzten Atemzug!
Alles war besser, als einfach nur ruhig hier zu liegen und auf den Tod zu warten!
Sie spürte, wie sich am Rand ein Röllchen bildete, das Band an dem Flaum an Wange und Mundwinkel ziepte. Sie musste nur durchhalten, gleich war es geschafft. Mit fiebrigem Eifer schabte sie weiter – und musste dabei die ersten verdächtigen Geräusche überhört haben.
Paula Brusching war nicht mehr allein.
»Na, na, na – da bin ich ja gerade im rechten Moment gekommen! Tz, tz, tz – da denke ich, du stirbst, und in Wirklichkeit mobilisiert unser todkrankes Häschen unerwartete Kräfte, na so was!«
Sie wurde rüde getreten und auf den Rücken zurückgedreht.
Brutal klebte ihr der Fremde einen neuen Streifen Klebeband über den alten. Diesmal noch näher an der Nase, so dass die Atmung zusätzlich behindert wurde.
Wer war das? Klaus Windisch? Ihre Gedanken überschlugen sich. Nichts, aber auch gar nichts konnte sie in dieser Finsternis erkennen. Der Lichtkegel aus der Taschenlampe ermöglichte nur ihrem Peiniger, sie im Auge behalten zu können. Ihr Atem ging flach und heftig. Würde er sie jetzt umbringen?
Mit dem Bewusstsein, nun ganz und gar ausgeliefert zu sein, kamen auch Kopfschmerz und Übelkeit zurück. Ihre Zunge fühlte sich wie ein harter Klumpen an, und das Schlucken wurde zunehmend zum Problem. Der Besitzer der fremden Stimme ging in die Hocke und leuchtete sein Gesicht von unten an, was
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