Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
und dann geschah genau das, wovon Jaqueline kürzlich gesprochen hatte: In einer furchtbaren Krisensituation entdeckte sie neue Fähigkeiten in sich. Sie wurde unsichtbar, psychisch unsichtbar, hinterließ einen so schwachen Eindruck bei ihren Mitmenschen, dass diese sich nicht daran erinnern konnten, sie wahrgenommen zu haben.
Jetzt allerdings schenkte ihr diese Gabe keine Sicherheit. Die Katze konnte sie sehen, davon war sie überzeugt, und wenn an dem Menschenfresser irgendetwas Übernatürliches war, würde er sie vermutlich ebenfalls wahrnehmen können. Und selbst wenn es sich um einen gewöhnlichen Menschen handelte – in letzter Zeit ließ ihre Fähigkeit nach, und vielleicht würde ihre Angst und ihre Panik sie verraten.
Gegen ein Uhr huschte in der Dunkelheit etwas an ihr vorbei. Es konnte nur die Katze sein, doch sie wagte nicht, die Hand nach ihr auszustrecken. Kurz reflektierten die blauen Augen ein Restlicht, dann waren sie wieder verschwunden.
Inzwischen musste die Kneipe, in der Jaqueline und Georg saßen, geschlossen haben. Wahrscheinlich warteten die beiden nun im Wagen und froren. Dorothea fror auch, doch nicht vor Kälte. Es war lange her, dass sie etwas richtig Mutiges getan hatte. Jahre. Und damals, auf dem Schrottplatz, war es ihr nicht gut bekommen.
Kurz vor zwei Uhr hörte sie Geräusche, die nicht aus den Zimmern und nicht aus den Wänden kamen, sondern vom Treppenhaus her. Alles in ihr krampfte sich zusammen, und sie redete sich ein, es müssten eben heimkehrende Hausbewohner sein. Doch es war Donnerstag, kein Tag, der dazu einlud, erst um zwei Uhr nach Hause zu kommen.
Sie hörte, wie ein Schlüssel in die Wohnungstür gesteckt und herumgedreht wurde. Wer immer die Wohnung betrat – er konnte nicht durch Wände gehen.
Dorothea war nicht bewaffnet. Die Erkenntnis, dass der Eindringling vermutlich aus Fleisch und Blut war, konnte sie nicht beruhigen. Sie atmete tief und lautlos durch, presste sich an den Stuhl, auf dem sie saß, konzentrierte sich darauf, mit der Dunkelheit zu verschmelzen.
Der Fremde machte kein Licht. Er schloss die Tür hinter sich, kam mit schweren Schritten durch den Flur. Die Tür zu dem ehemaligen Schlafzimmer, das jetzt zum Computerraum umfunktioniert worden war, stand offen. Dorothea starrte in die Finsternis und konnte einen großen Schatten vorbeigehen sehen. Es schien ihr, dass er tatsächlich einen breitkrempigen Hut trug, aber das war in der nahezu vollkommenen Finsternis schwer zu entscheiden.
Der Mann, den man den Menschenfresser nannte, befand sich in ihrer Wohnung.
Er stieß nirgends an. Konnte er im Dunkeln sehen? Oder kannte er sich so gut aus?
Dorothea wartete, bis er in ihrem Büro, dem ehemaligen Wohnzimmer, verschwunden war. Dann nahm sie das Handy zur Hand und verschickte eine SMS an Jaqueline und Georg. Das erleuchtete Display schirmte sie ab, so gut es ging. Alle Signaltöne hatte sie vorher abgeschaltet.
Der Menschenfresser schien mit den Händen die Wände abzutasten und abzuklopfen. So wenigstens klang es. Suchte er tatsächlich etwas?
Dorothea fragte sich, wie lange die beiden brauchen würden.
Sie kam an einen Punkt, wo sie am liebsten alles rückgängig gemacht hätte. Warum hatten sie nicht die Polizei eingeschaltet? Aus dem alten Grund, dass die Öffentlichkeit nicht auf Falkengrund aufmerksam gemacht werden durfte? Irgendwann würden ihre Prinzipien ihnen das Genick brechen. Im Nebenzimmer hielt sich vielleicht ein Mörder auf, und sie glaubten wirklich, den Fall auf eigene Faust lösen zu müssen!
Dorothea lauschte. Was tat der Mann? Suchte er nach einer Geheimtür in der Wand? Der Gedanke hatte etwas Faszinierendes an sich. Falls es eine solche gab, würde sich auch das Verschwinden der Katze neu erklären lassen. Andererseits – wenn er über Jahre hinweg öfters in die Wohnung kam und suchte, hätte er doch längst etwas gefunden haben müssen!
War die alte Birk getötet worden, weil in ihrer Wohnung ein Schatz versteckt war?
Ein gewaltiger Knall ließ das Haus erzittern. Für einen Sekundenbruchteil glaubte sie an einen Schuss, dann begriff sie, dass es die Wohnungstür gewesen war. Georg musste sie von außen mit voller Wucht aufgestoßen haben. Dorothea hätte sich am liebsten verkrochen, doch sie überwand sich und stürzte in den Flur. Licht flammte auf, sie schloss geblendet die Augen.
„Er ist im Büro“, rief sie. Georg kam hereingesprungen, hinter ihm Jaqueline. Dorothea betrat als erste das Büro. Ganz
Weitere Kostenlose Bücher