Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
Sprüche zu bestimmten Themen sammelte. Ein kleines, rötliches Ding mit abgestoßenen Kanten, das ein bisschen wie ein Gebetsbuch aussah. Jede Doppelseite hatte eine andere Tönung, als hätte man es an verschiedenen Stellen aufgeschlagen und unterschiedlich lange dem Licht ausgesetzt. Sie hatte das Kapitel „Gesuchtes finden“ aufgeschlagen.
Im Augenblick gab es jemanden, den sie unbedingt finden wollte. Seit Monaten hatte sich Sir Darren nicht bei ihnen gemeldet. Sie wusste nicht einmal, ob er noch am Leben war. Zwar redete sie sich ein, er müsse seine Gründe dafür haben, keinen Kontakt zu seinen Kollegen und Studenten auf Falkengrund aufzunehmen, trotzdem brauchte sie ihn. Sie hätte es ihm gegenüber niemals zugegeben, aber Sir Darren Edgar war vermutlich der mächtigste Mann, dem sie in ihrem Leben begegnet war. Er war mit Lorenz von Adlerbrunn fertiggeworden, und vielleicht würde er auch mit dem fertigwerden, was auf sie zukam: schwarze Schatten, unbekannte Wesen, Dämonen möglicherweise, oder etwas ganz anderes, etwas, wofür sie keine Namen und Begriffe hatten.
In dem Buch war sie auf den Sechszeiler gestoßen. Dummerweise gab es zu keinem der Sprüche einen Kommentar, und so wusste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Selbst wenn es eine magische Formel war – solche Dinge funktionierten nicht einfach, indem man sie mal eben aussprach. Bedingungen mussten erfüllt, Rituale ausgeführt, Tageszeiten und Örtlichkeiten eingehalten werden. Im Gegensatz zu den üblichen Büchern über Magie schwieg sich dieser kleine Band über all diese elementaren Dinge aus.
Sie rieb sich die Augen, massierte ihren Nacken und lehnte sich für eine Minute zurück. Dann erhob sie sich und schloss das Fenster. Der Regen war nun weniger laut, und prompt konnte man wieder Geräusche aus dem Inneren des Gebäudes vernehmen.
Die Schritte zum Beispiel, die in diesem Moment über den Flur kamen. Vermutlich Werner Hotten, der in sein Zimmer ging.
Moment. Klang das nicht, als machten die Schritte genau vor ihrer Tür Halt?
Margarete, die sich eben wieder setzen wollte, blieb stehen.
Es klopfte beinahe forsch.
Ehe sie antwortete, flog ihr Blick zur Wanduhr. Ein altes, blechernes Ding, das ihr einmal ein Antiquitätenhändler geschenkt hatte. Das Uhrwerk musste täglich aufgezogen werden, eine Tätigkeit, die Margarete vor dem Einschlafen verrichtete. Eher kratzende denn tickende Geräusche waren es, die aus dem Inneren kamen, als treibe eine altersschwache Kakerlake dort die Zahnräder um. Es war nach 21 Uhr. Wahrscheinlich wollte einer der Studenten etwas von ihr.
„Herein“, rief sie gegen das Prasseln des Regens an, und die Tür flog beinahe im gleichen Moment mit großem Schwung auf.
„Überraschung!“ Im Rahmen stand ein Mann, den sie kannte. Allerdings gehörte er nicht zu den Studenten oder Dozenten von Falkengrund. Seine sonst blonden Lockenhaare waren vom Regen dunkel an den Kopf geklatscht worden, und die randlose Brille, die seinem nie alternden Lausbubengesicht etwas Seriöses verlieh, hielt er in der Hand. Auch sie war nass geworden, und er hatte offensichtlich noch keine Gelegenheit gehabt, sie trockenzureiben. Margarete sah auch, warum. An seiner Kleidung war kein trockener Fleck mehr.
„Ich fürchte, ich habe eine nasse Spur durch das ganze Schloss hinterlassen“, grinste er, „wie einer dieser Wasserleichen-Zombies, die aus dem Meer zurückkehren, um sich an der fremdgehenden Ehefrau zu rächen.“
Margarete verzog das Gesicht. „Verwechselst du da nicht etwas? Ich dachte, du wärst derjenige, der in den Hafen der Ehe eingelaufen ist.“
„Marg, das ist fünf Jahre her – eine unendlich lange Zeit, verglichen mit der Ewigkeit.“
Die Dozentin legte den Kopf schräg, wie eine tadelnde Mutter. „Ach? Ich nehme an, Frau Possmann sitzt jetzt zu Hause vor dem Fernseher und lässt sich von Günther Jauch löchern. Die 500.000-Euro-Frage: Woran arbeitet Ihr Mann im Moment? Vier Antwortmöglichkeiten: Blond, rot, brünett oder schwarz.“
„Sie würde den Telefonjoker nehmen und eine Freundin anrufen, so ahnungslos ist sie“, erwiderte der Besucher. „Die falsche Freundin. Die, mit der ich nichts habe. Kann ich jetzt reinkommen?“ Mit einem schrägen Lächeln schwenkte er die Weinflasche, die er in der freien Hand hielt. Ein Chablis Blanc.
„Auf keinen Fall.“ Margarete versuchte, streng zu wirken, doch das zartschmelzende Aprikosenaroma, das sich beim Anblick des Rebensaftes auf
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