Menschenfresser - Gargoyle - Posters Haus
bestimmte Stelle geführt – oder in eine Falle gelockt?
„Ich wähle diese Szene!“, rief sie bestimmt, ehe der kleine Ausschnitt, den sie sah, durch den nächsten ersetzt werden konnte. „Zeig ihn mir!“
Die Worte hatten eine dramatische Wirkung. Ein Abgrund tat sich auf, aber nicht nur unter ihr, sondern überall um sie herum. In horizontaler wie in vertikaler Richtung entstand ein gewaltiges, bodenloses Loch, eine Kluft, die sie anzuziehen schien. Es gab kein Oben und kein Unten mehr, der Abgrund hatte keine Ränder, er erstreckte sich in alle drei Dimensionen und umgab sie vollständig. Wohin sie auch sah, nur gähnende Tiefe. Der Boden war verschwunden, die Bäume des Gartens, das Schloss, nichts war mehr da – einzig und allein der Gargoyle, auf dem sie lag, existierte noch. Der Regen fiel in alle Richtungen davon, und von überall her schien die Schwerkraft an ihr zu zerren. Verzweifelt klammerte sie sich an die Steinfigur, denn auf einmal zog es sie auch nach oben und zu den Seiten.
Sie war der Mittelpunkt eines grenzenlosen Lochs. Ihre Vorstellungen von Physik zerbrachen. Das Entsetzen griff nach ihr. Ihre Haare strömten nach allen Seiten hin davon, und das Wasser troff von ihrem nassen Körper, fiel nach oben, zur Seite, überall hin. Ihre Hände rutschten über den Stein, sie presste ihre Schenkel gegen den Körper des Wasserspeiers, versuchte ihre Beine um seinen Rumpf zu schlingen, glitt ab und fasste mit den Händen noch einmal nach.
„… nicht gefunden …“, wehte die Stimme des Gargoyles heran, ehe sie von dem Wind, in dessen Ursprung sie sich befanden, fortgerissen wurde. „… die Szene existiert nicht …“
„Was heißt, sie existiert nicht?“, brüllte Margarete. „Bedeutet das, diese Sache ist gar nicht geschehen? Was habe ich dann gesehen?“
Anstelle einer Antwort plätscherte der Gargoyle: „… unterbreche die Verbindung …“
Das wurde höchste Zeit. Margarete machte sich auf schmerzhafte Sekunden gefasst, doch was folgte, war ein Zuckerschlecken. Sie spürte nahezu gar nichts. Dort, wo eben noch ein zerrendes, hungriges Nichts gewesen war, füllte sich der Raum wieder mit Materie. Das Schloss, der Garten, der Regen – sie holperten etwas ungeschickt und ruckartig heran, wirkten einen Moment lang verzerrt und fehl am Platz, wie verschobene Theaterkulissen. Margarete musste befürchten, von ihnen erschlagen zu werden, als sie allzu ungestüm wieder ihre Positionen einnahmen, ähnlich wie eine Tanzgruppe, die gestürzt war und nun schüchtern lächelnd in die Grundaufstellung zurückkehrte.
Die Welt hatte sie wieder. Aber sie hatte etwas erlebt, was sie nicht so schnell vergessen würde.
Aufatmend entspannte sie sich auf dem Hals des Ungeheuers, dankbar, dass die Schwerkraft nur noch von einer Seite aus auf sie einwirkte. „Wie kann das sein?“, murmelte sie. „Die Szene … ich habe sie doch sehen können …“
„… wir leben nicht ewig …“, klang die Stimme des Gargoyles auf. „… manche von uns werden … beseitigt … zerstört … von Erdbeben … vom Zahn der Zeit … von Menschenhand …“
Margarete begriff. Wenn einer der Wasserspeier zerbrach, ging auch das Wissen verloren, das er angesammelt hatte. Er verschwand aus dem Netz der Gargoyles, und zurück blieb eine Leere, ein schreckliches Loch, wie sie es eben am eigenen Leibe erfahren hatte. Die Szene mit Sir Darren und Anna hatte sich also tatsächlich zugetragen, nur hatte sie keinen Zugriff mehr auf sie in ihrer Gesamtlänge.
Es fiel ihr immer schwerer, ihre Gedanken zu ordnen. Ihre Körperkraft ging zur Neige, die Geschehnisse der letzten Minuten hatte ihre Spuren hinterlassen. In ihren Adern schien Eiswasser zu fließen, und ihre Muskeln verkrampften sich unter der Kälte und der Anstrengung.
„Trage mich nach unten“, wiederholte sie die Bitte, die sie schon einmal gestellt hatte. Jetzt, wo sie wusste, dass die Gargoyles ihr helfen konnten, hatte sie Zeit. Sie konnte es wieder versuchen, an einem trockenen, wärmeren Tag und mit einer Leiter. Es machte keinen Sinn, sich in Lebensgefahr zu bringen.
„… wir können nicht hinunter …“
Ja, das wusste sie schon. Aber sie akzeptierte es nicht. „Himmel, ihr könnt durch Zeit und Raum sehen, längst vergangene Ereignisse herbeiholen – es muss doch einen Weg geben, wie ich lebendig hier herunter komme!“ Das Dach! Wenn sie es schaffte, aufs Dach zu kriechen, konnte sie sich bemerkbar machen. Ihre Schreie würde man wohl nicht
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