Menschenhafen
hatten und nun verschwunden waren. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die Hände in unterschiedlichen Positionen. Bilder aus der Ferne, Brustbilder, Nahaufnahmen. Maja oben am Reflektor.
Ein Kloß wuchs in Anders’ Hals, das Atmen fiel ihm schwer. Wie konnten sie nur fort, für ihn nicht mehr da sein, wenn er doch hier saß und sie in den Händen hielt? Wieso durfte das sein?
Die Tränen liefen, und eine Schraube bohrte sich durch seine Brust. Er ließ die Bilder sinken und die Gefühle an sich heran. Er schlang die Arme um sich und dachte: Wenn es einen Weg gäbe …
Wenn es einen Weg gäbe, eine Maschine, eine Methode, um Menschen aus Fotografien zu befreien. Diesen eingefrorenen Augenblick einzufangen und aufzutauen und die Menschen wirklich werden zu lassen und in die Welt zurückzuführen. Er nickte für sich, während immer neue Tränen herabliefen und die Schraube immer weiter gedreht wurde.
»Wenn das ginge«, murmelte er. »Wenn das bloß ginge …«
Er blieb sitzen, bis der Schmerz nachließ und die Tränen versiegten. Dann betrachtete er nacheinander die einzelnen Aufnahmen und strich mit dem Finger über die zweidimensionalen Gesichter, die nie mehr bei ihm sein würden.
Merkwürdig …
Er blätterte in dem Stapel. Auf keinem einzigen Bild sah Maja in die Kamera. Cecilia blickte auf jedem Foto gehorsam in die Linse, auf einem hatte sie sogar ein strahlendes Lächeln hinbekommen. Aber Maja …
Ihre Augen waren abgewandt, und auf zwei Aufnahmen nicht nur die Augen. Ihr ganzes Gesicht war nach links gewandt. In östliche Richtung.
Anders studierte die Bilder eingehender und sah, dass ihr Blick auf allen Bildern einen bestimmten Punkt zu fixieren schien. Auch wenn ihr Gesicht der Kamera zugewandt war wie auf der Nahaufnahme, zog es ihre Pupillen nach links.
Er senkte das Bündel mit Fotografien und starrte mit gähnend offenem Mund ins Leere. Er erinnerte sich. Oben im Leuchtturm. Sie hatte hinausgezeigt und …
Papa, was ist das?
Was meinst du?
Na da. Auf dem Eis.
Weit draußen war Gåvasten nur eine diffuse Erhebung aus dem graublauen Meer. Mit den Zeigefingern und Daumen formte Anders ein kleines rhombenförmiges Loch, durch das er schaute, um seinen Blick zu schärfen. Gåvastens Konturen wurden etwas deutlicher, aber er konnte nichts Besonderes erkennen.
Was hat sie nur gesehen?
Er stand von der Treppe auf, steckte die Fotografien in die Tasche und ging mit zielstrebigen Schritten nach Hause. Er hatte einen Job zu erledigen.
Anders drehte eine Runde um das kieloben liegende Boot und betrachtete es mit pragmatischeren Augen. Es sah klapprig aus, wohl wahr, aber würde es dennoch seinen Zweck erfüllen: zu schwimmen und einen Motor zu tragen, der ihn nach Gåvasten bringen konnte?
In puncto Nützlichkeit war die Motorhalterung der schwächste Punkt. Die Metallplatte am Heck war durchgerostet, versuchte man einen Motor an ihr zu befestigen, würde er höchstwahrscheinlich im Meer landen. Anders musterte die Konstruktion. Mithilfe von zwei durchgehenden Bolzen konnte die Metallplatte mit einem Holzstück verstärkt werden. Das war zwar keine komplizierte Arbeit, aber das Boot musste umgedreht werden, damit er herankam.
Er ging zum Haus und bat Elin um Hilfe. Sie mussten all ihre Kräfte aufbieten, aber am Ende gelang es ihnen, das Boot so anzuheben, dass es senkrecht balancierte und Anders auf die andere Seite gehen und es dort in Empfang nehmen konnte, um den Fall abzufedern, wenn sich das Boot auf den Kiel drehte.
Elin betrachtete die gesprungene Sitzbank, die Risse um die Dollen und die Glasfiberfransen entlang der kaputten Reling. »Willst du mit dem Ding wirklich fahren?«
»Wenn der Motor funktioniert. Wie geht es jetzt weiter?«
»Womit?«
»Mit allem. Deinem Leben. Was hast du vor?«
Elin rupfte zwei Wermutblätter ab, zerkrümelte sie zwischen den Finger, roch an ihnen und zog eine Grimasse. Anders nahm flüchtig eine Bewegung hinter ihnen wahr und sah, dass Simon auf sie zukam. Als Elin ihn bemerkte, flüsterte sie: »Sag nicht, dass ich es bin. Wenn er fragt. Das ertrag ich nicht …«
Mehr konnte sie nicht sagen, bevor Simon bei ihnen war. »Sieh einer an«, sagte er und nickte in Richtung des Boots. »Du willst es zu Wasser lassen?«
»Ja.«
Simon wandte sich Elin zu und zuckte zusammen. Sekundenlang blieb er mit gerunzelter Stirn stehen und starrte ihr Gesicht an. Dann streckte er ihr die Hand zum Gruß entgegen.
»Hallo. Simon.«
Er starrte weiter Elins
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