Menschenhafen
Soffi?« Maria legte eine Hand auf die Schulter ihrer Freundin, aber Sofia schnaubte bloß und wandte sich ab. Maria inspizierte ihre Kleidung und schüttelte den Kopf. Es war unbegreiflich. Sofias Mutter achtete stets sorgsam darauf, dass ihre Tochter ordentlich angezogen war, aber heute trug sie weder eine Mütze noch Handschuhe und hatte nur einen dünnen Anorak an, der kaum Schutz vor dem Wind bot.
Maria verspürte einen Stich in der Brust. Schon als kleines Kind war sie ein Mensch mit sensiblen Antennen gewesen, den es schmerzte, wenn es anderen nicht gut ging. Deshalb zog sie ihren Schal aus und begann ihn Sofia um den Hals zu wickeln.
»Du frierst bestimmt, es ist doch …«
Das Wort »superkalt« gefror ihr auf den Lippen, als Sofia sich zu ihr umwandte. Ihre Augen sahen so unheimlich aus, dass Maria wimmerte und den Schal losließ.
»Rühr mich nicht an!«, fauchte Sofia, und Maria hielt schützend die Hände hoch, vielleicht auch, um zu signalisieren, dass sie nichts mehr tun würde, aber noch ehe sie etwas sagen konnte, hatte Sofia bereits ihre Jacke gepackt.
Arvid studierte die Graffiti im Wartehäuschen. Er hörte Maria aufschreien, achtete aber nicht weiter darauf und dachte, die Mädchen würden über irgendetwas tratschen. Dann veränderte sich der Schrei jedoch, und unmittelbar darauf hörte man ein Klatschen.
Arvid lugte gerade rechtzeitig aus dem Wartehäuschen heraus, um Sofia zu Mårten und Emma laufen zu sehen. Sie packte die Schneeanzüge der beiden an der Brust und zog sie zu sich heran. Emma gelang es, sich loszureißen, wodurch Sofia beide Hände frei hatte, um Mårten festzuhalten. Der kleine Junge schrie wie am Spieß, als Sofia ihn zum Rand des Schiffsanlegers schleifte und darüber hinwegschleuderte. Während er über die Kante stürzte, schrie er weiter und verstummte dann abrupt.
Das Zubringerboot war noch etwa fünfzig Meter vom Schiffsanleger entfernt, und die Möwen flogen vom Meer auf und wurden gen Himmel gehoben wie ein flatternder und schreiender Vorhang.
Das Ganze war jenseits aller Vernunft, weshalb es ein paar Sekunden dauerte, bis Arvids Gehirn akzeptierte, dass es hier nicht um Fangen oder irgendein anderes Kinderspiel ging und Sofia tatsächlich den kleinen Mårten ins eiskalte Wasser geworfen hatte.
Und wo ist Maria?
Sofia fletschte die Zähne und rannte auf die anderen Kinder zu, die verängstigt kreischend landeinwärts flohen. Es war wie Wer hat Angst vorm schwarzen Mann , nur dass der Mann wirklich gefährlich war und es einem nichts nützen würde, vorsichtig zu sein.
Während Arvid zum Rand des Schiffsanlegers lief, nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass das Zubringerboot noch zu weit entfernt war, um auf Rogers Hilfe hoffen zu können. Arvid schaute ins Wasser und sah Mårtens hellblauen Schneeanzug gleich unter der Oberfläche.
Er zögerte. Eigentlich war es nicht seine Aufgabe, so etwas zu tun. Er war erst dreizehn und das Wasser kaum wärmer als null Grad, und es musste doch irgendeinen Erwachsenen geben, der …
Großvater. Großvater hätte …
Weiter dachte er nicht, ehe seine Hände von ganz allein den Reißverschluss der Lederjacke aufzogen und sie abstreiften. Die hellblaue Farbe von Mårtens Schneeanzug wurde dunkler, als er sank, und keiner außer Arvid konnte ihn retten.
Er hatte die Jacke ausgezogen und wollte gerade tief Luft holen, als ihn von hinten ein fester Stoß traf, der ihn ins Leere kippen ließ. Im Fallen drehte er sich halb um und sah für einen kurzen Moment Sofia, die ihn mit wahnsinnigen Augen anstarrte, ehe er die zwei Meter fiel und ins Wasser schlug.
Die Kälte zerrte alle Luft aus ihm, und seine Lunge zog sich zusammen und erlaubte ihm nicht, neue einzuatmen. Er sah den spitzen Bug des Zubringerboots in etwa zehn Meter Entfernung. Es kam direkt auf ihn zu, und er hörte die Motoren aufbrüllen, als Roger auf volle Kraft zurück schaltete.
Mit einer Kraftanstrengung gelang es Arvid, ein bisschen einzuatmen, dann hielt er die Luft an, tauchte das Gesicht ins Wasser und machte einen Schwimmzug nach unten. Nase, Mund und Augen gefroren zu Eis, aber in diesem Augenblick gab es für ihn nur eins, und zwar zu dem blauen Bündel unter ihm vorzudringen.
Er machte noch einen Schwimmzug, und das Brüllen der Motoren durchdrang seinen Kopf, als er spürte, dass seine Füße unter Wasser kamen. Er hatte Druck auf den Ohren und versuchte vergeblich, seine groben Stiefel abzustreifen, machte einen weiteren Schwimmzug, einen
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