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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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wollte, dass sie verschwindet. Und dann ist sie verschwunden.
    Sie weinte, schrie und trat, wenn sie nicht bekam, was sie wollte. Dinge, die sich nicht wunschgemäß verhielten, schlug sie sofort kaputt. Sie kannten keine Grenzen. Sie trauten sich nicht, Maja Kindersendungen im Fernsehen gucken zu lassen, nachdem sie eine Vase gegen den Bildschirm geschleudert hatte, als eine Zeichentrickfigur eine dumme Bemerkung machte. Wie viele Stunden hatten sie damit verbracht, Perlen aufzufegen, nachdem Maja sie ausgekippt hatte, wie viele Stunden mit zerrissenen Malblöcken und Comics?
    So war es. So war es gewesen. Als hätte man ein Untier im Haus, sodass man sich auf Schritt und Tritt in Acht nehmen und ständig wachsam sein musste, um nicht seinen Zorn zu erregen. Sie waren in der Kinderklinik gewesen, sie hatten einen Kinderpsychologen aufgesucht, aber nichts von alldem hatte geholfen. Man konnte nur hoffen, dass es mit den Jahren vorübergehen würde.
    Anders klapperte mit den Zähnen und zog die Decke fester um sich.
    Darin lag der Grund für seine große Schuld, die er im Suff ertränken wollte und anschließend durch geduldige Arbeit glücklich verdrängt hatte: dass das Ganze sein Fehler war. Er hatte sich gewünscht, dass sie verschwand, einfach verschwand, und genau das war passiert. Er hatte es wahr werden lassen.
    »Alle Eltern, deren Kindern etwas zugestoßen ist, machen sich anschließend Vorwürfe«, hatte der Familientherapeut gesagt, zu dessen Besuch Cecilia ihn gezwungen hatte.
    Das war sicher richtig. Aber diese Eltern kamen höchstwahrscheinlich mit der Zeit zu der Einsicht, dass es nicht ihr Fehler war, dass das Kind überfahren worden oder an Krebs erkrankt war oder sich im Wald verlaufen hatte. Sie hatten es sich zumindest nicht gewünscht . Und selbst wenn sie es sich gewünscht hätten, wäre das Kind doch auf natürliche Weise verschwunden, soweit es so etwas gab.
    Maja hatte aufgehört zu existieren, als hätte es sie nie gegeben, als wäre sie … weggewünscht worden. Das war unmöglich, und folglich war die Erklärung, dass Anders sie weggewünscht hatte, genauso plausibel wie jede andere, und er hielt sich an sie. Wie er die Sache auch drehte und wendete, er kam doch immer zum gleichen Schluss: Er hatte sein eigenes Kind getötet.
    Erst als Cecilia ihn verlassen und er sich in Grund und Boden getrunken hatte, wurde ein letzter Rettungsanker in die Finsternis geworfen: Seine Erinnerung wurde Stück für Stück umgestaltet. In betrunkenen Tagen und Nächten hatte er sich eine neue Vergangenheit gezimmert, in der Maja stets wunderbar gewesen war und er sie schlicht und rein geliebt hatte.
    Er hatte ihr niemals wütende Gedanken gewidmet, und deshalb war es unfassbar, dass sie verschwinden konnte. Es war eine große Tragödie, die nichts mit ihm zu tun hatte, da er seine Tochter über alles in der Welt geliebt hatte.
    So hatte seine Geschichte bis zu diesem Moment ausgesehen.
    Als das Telefon klingelte, zuckte Anders zusammen. Er war unfähig, an den Apparat zu gehen, und nach sechs Klingeltönen wurde es wieder still. Er konnte mit niemandem sprechen. Es gab ihn nicht, er war nichts.
    Er legte erneut den Kopf in die Hände und lauschte in die Leere hinein. Ein neuer Gedanke tauchte in ihm auf.
    Aber wenn ich sie loswerden wollte … warum war es dann so furchtbar, als sie verschwand? Ich hätte mich doch eigentlich … freuen sollen. Letzten Endes. Was ich mir gewünscht hatte, wurde wahr.
    Anders stand von seinem Stuhl auf. Es knackte in den steifgefrorenen Knien, als er im Zimmer auf und ab ging.
    Die Antwort lag auf der Hand: In seinem tiefsten Inneren hatte er es doch nicht gewollt. So anstrengend sie auch gewesen sein mochte, es hatte doch auch gute Momente gegeben. Und die hatte es immer öfter gegeben, und sie waren immer länger geworden. Die Veränderung, auf die sie hofften, hatte sich angedeutet. Der letzte Tag, ihr Ausflug nach Gåvasten, war ein gutes Beispiel. Sie hatte sich stundenlang fast wie ein normales Kind benommen.
    Und dieses Kind, das neugierige, intensive und lebendige Kind, hatte er geliebt, und er war bereit gewesen, inmitten hysterischer Anfälle und zerschlagener Dinge auf es zu warten. Es war auf dem richtigen Weg gewesen. Dann verschwand Maja, und er konnte sich nur an seine schlimmen Gedanken erinnern, bis das Ganze ins Gegenteil umschlug.
    Ich habe sie nie gekannt.
    Nein. Als er in seine Decke gehüllt mitten in der Küche stand, erkannte er, dass sich der Kern

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