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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Spiritus besitzen, hatte es jedoch genau wie Simon vermieden, davon zu erzählen. Wie sonst ließ sich der Streifen Eis erklären, der als schwarzer Strich auf dem Meer lag?
    Simon hatte Benzin in den Motor gepumpt, den Choke gezogen und ihn mit einem kraftvollen Ruck angelassen. In seinem aufgewühlten Zustand hatte er jedoch vergessen, den Choke wieder hineinzudrücken, als er Gas gab, sodass der Motor wieder absoff. Er hatte einige Male am Seilzug reißen müssen, bis er erneut ansprang, und in der Zwischenzeit hatte sich Anders auf den Rückweg zum Land gemacht und war ins Wasser gesunken.
    Als Simon den Scheinwerfer des Lastenmopeds sah, das übers Wasser auf Anders zufuhr, hatte er erkannt, dass ein weiterer Spiritus vielleicht doch nicht die richtige Erklärung war, und nichts von allem, was er wusste, als Erklärung taugte. So weit war er gekommen, ehe er die Leinen losgemacht hatte und mit Vollgas Kurs auf den Vogelschwarm nahm, der vom Mond herabfiel.
    Anders hustete mehrmals und schlug die Augen auf. Er sah Simon an und nickte schwach. Anschließend zog er den Schneeanzug an sich, umarmte ihn an seiner Brust und sagte: »Sie haben mich reingelegt.«
    Dann blieb er längere Zeit stumm. Er lag auf dem Bootsdeck und drehte den Overall in den Händen. Schließlich setzte er sich langsam auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die mittlere Ducht. Er schaute an seinem Köper herab, zog an seinem Hemd.
    »Warum bin ich nicht … nass?« Er sah Simon an und runzelte die Stirn. »Wie hast du mich eigentlich aus dem Wasser geholt?«
    Simon kratzte sich im Nacken und musterte den Flicken auf dem Schneeanzug. Tino Tatz trug einen Stapel Honiggläser und war höchstwahrscheinlich guter Dinge. Das Mondlicht reichte nicht aus, um zu sehen, wie es um seine Laune stand.
    Anders drehte den Kopf nach hinten und sah auf die Förde hinaus, zu dem Punkt, an dem Simon ihn herausgefischt hatte. »Ist das gar nicht passiert? War das nur … ist es nicht passiert?«
    Simon kniff die Augen fest zusammen, öffnete sie wieder, räusperte sich und sagte: »Doch, doch, es ist passiert. Und ich denke, dass du … einige Dinge erfahren musst.«
    Bei Anna-Greta lief der Fernseher, obwohl sie gar nicht hinsah. Es war eine Angewohnheit oder Unart von ihr, sodass Simon Anders zur Begleitung von Menschen, die sich anschrien und aufeinander schossen, an den Küchentisch setzte, eine Decke um ihn legte und ihm ein Glas Cognac einschenkte.
    Als Anna-Greta ins Wohnzimmer ging, um den Apparat auszuschalten, folgte Simon ihr. Ein verschwitzter Mann vor einem stahlgrauen Hochhaus verschwand vom Bildschirm, und Simon sagte leise: »Er muss Bescheid wissen. Über alles.«
    Anna-Greta verzog keine Miene. Sie musterte eindringlich Simons Gesicht, senkte den Kopf in einem fast unmerklichen Nicken und sagte: »Dann wird er auch …«
    »Ich weiß«, erwiderte Simon. »Aber das spielt keine Rolle. Es ist ihm schon auf den Fersen. Er muss erfahren, was es ist.«
    In knappen Worten fasste er für Anna-Greta zusammen, was auf der Förde geschehen war. Anschließend gingen sie gemeinsam in die Küche, setzten sich Anders gegenüber und erzählten ihm alles.
    Verlassen
    Stahlbad. Anders hatte die Bedeutung dieses Begriffs nie wirklich verstanden: dass man durch ein Stahlbad gehen musste, um etwas zu verändern. Er wusste nach wie vor nicht genau, was das Wort bedeutete, ahnte inzwischen jedoch, wie es sich anfühlen mochte.
    Er war verzweifelt und ein Nichts gewesen, war anschließend einer aufkeimenden Hoffnung hinterhergejagt. Er war binnen weniger Minuten stark unterkühlt gewesen und in Windeseile wieder aufgewärmt worden, ein Prozess umgekehrt zu dem, mit dem man Stahl härtet, und genauso fühlte er sich jetzt. Er war abgehärtet worden. Alle Nerven saßen auf seiner Hülle, und der Körper war so mürbe wie eine faule Birne. Wenn er sich nicht an der Tischplatte festhielt, würde er zu einer Pfütze zerfließen. Mit jedem Glas Wasser, das er trank, fühlte er sich stärker verdünnt.
    Anna-Greta und Simon sprachen und erzählten. Über Domarös Vergangenheit, über den Pakt mit dem Meer und die Menschen, die verschwunden waren. Über die Insel, die seinen Vater gejagt hatte, und die Veränderung des Meeres in letzter Zeit.
    Anders lauschte und begriff, dass ihm verblüffende Fakten mitgeteilt wurden. Aber das Ganze kam nicht an ihn heran, es war ihm gleichgültig. Seine Augen wanderten immer wieder zu dem roten Schneeanzug, der zum Trocknen vor dem

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