Menschenhafen
sie ein wenig ängstlich. Sie wusste, dass Marita seit fast einer Woche verschwunden war und es Simon nicht gut ging. Außerdem war das Wasser kalt. Neun Grad. Sie hatte sich selbst am Morgen vergewissert.
Ja, ja, dachte sie und blickte in das dunkle Wasser hinab. Er wird schon wissen, was er tut .
Es war nicht leicht, Anna-Greta zu beeindrucken. Die Menschenmenge erstaunte sie nicht, die Leute liefen überall hin, Hauptsache, es gab etwas Neues. Als jemand sie fragte, wie Simon es ihrer Meinung nach anstellen würde, antwortete sie: »Er windet sich bestimmt irgendwie.«
Der Fragesteller lächelte nachsichtig: Anna-Greta hatte anscheinend nicht viel über Simon erfahren. Doch das hatte sie, auf Umwegen. Wenn er mit nacktem Oberkörper auf seinem Grundstück herumlief, hatte sie gesehen, dass sein Knochenbau aussah, als würde damit etwas nicht ganz stimmen: Die Knochen stachen in schiefen Winkeln heraus, als wären die Gliedmaßen nicht an der richtigen Stelle.
Sie war deshalb zu dem Schluss gekommen, dass die Entfesselungsnummer diesen Körper erschaffen hatte, oder er sich auf Entfesselungen verlegt hatte, weil er so erschaffen war. Als Kind hatte sie im Zirkus einmal einen Schlangenmenschen gesehen, und der Bursche damals hatte ganz genauso ausgesehen. Was die Knochen in seinem Körper zusammenhielt, war elastischer als bei normalen Menschen.
Daher war sie zu der Überzeugung gelangt, dass Schlängeln und Sichwinden hinter seiner Fähigkeit steckte, sich aus Ketten und Fesseln zu befreien. Mehr wollte sie nicht sagen: Simons Geheimnisse waren seine Sache. Außerdem begriff sie nicht, wie man sich aus Handschellen herauswinden sollte. Aber dafür gab es sicher auch Methoden, hoffte sie.
Als Simon sich in einem Bademantel der Anlegestelle näherte, begann die Menschenmenge zu applaudieren. Anna-Greta klatschte ebenfalls Beifall und warf einen Blick auf Johan. Auch er applaudierte, aber sein Gesicht war angespannt und sein Blick auf Simon fixiert, der heranschlenderte, als wollte er nur mal kurz ins Wasser springen.
Anna-Greta wusste, dass Johan an Simon hing. Bereits im Sommer des Vorjahrs war er oft weggegangen und ein paar Stunden fortgeblieben, um anschließend heimzukehren und ihr einen Zaubertrick zu zeigen, den Simon ihm beigebracht hatte. Simple Dinge, wie Simon beteuerte, aber Anna-Greta konnte beim besten Willen nicht begreifen, wie Johan es anstellte, wenn er einen Salzstreuer durch die Tischplatte schlug.
Anna-Greta strich Johan über den Rücken, und er nickte, ohne die Augen von Simon abzuwenden. Es war kein Wunder, dass er angespannt war, Anna-Greta hatte gelesen, was auf dem Plakat stand:
KANN DAS JEMAND SCHAFFEN???
… An Händen und Füßen mit Ketten und Handschellen gefesselt zu werden?
… In einen Sack eingeschlossen und ins Meer geworfen zu werden?
… Nicht zu ertrinken, während der Sack zum Meeresgrund sinkt?
Am Samstag, den 15. Juli, wird El Simon
all das am Schiffsanleger von Domarö versuchen.
WIRD ER ÜBERLEBEN???
Johan war natürlich bewusst, dass der Text des Plakats möglichst wirkungsvoll sein sollte, aber allein die Tatsache, dass die Worte »ertrinken« und »gefesselt« auf dem gleichen Papier standen wie der Name eines Menschen, den man gernhatte, reichte wohl aus, um einen schlucken zu lassen. Anna-Greta hegte keine besonderen Gefühle für Simon, er war eine nette Bekanntschaft und ein guter Mieter, sonst nichts. Trotzdem musste sie die Hände in den Jackentaschen ballen, um nicht auf den Nägeln zu kauen.
Simon trat zu einer der Fischerhütten, hob den Haken ab und ging hinein. Als er wieder herauskam, hatte er ein Bündel in den Armen, das er zu seinen Zuschauern trug. Es rasselte, als er das Bündel auf die Erde warf und mit lauter Stimme verkündete:
»Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Vor mir liegen Ketten, Seile und Vorhängeschlösser. Ich möchte nun zwei starke Herren aus dem Publikum bitten, vorzutreten und sie nach Kräften zu benutzen, um mich zu binden und zu fesseln, bis sie überzeugt sind, dass ich mich nicht mehr befreien kann.«
Simon ließ den Bademantel fallen. Er trug nur eine dunkelblaue Badehose und sah beunruhigend hager und gebrechlich aus.
Ragnar Pettersson trat vor, und etwas anderes hatte auch niemand erwartet. Man erzählte sich von ihm, dass er ganz allein eine seiner Kühe herausgezogen hatte, die im Sumpf an der Strandbucht zu versinken drohte. Kein Mensch begriff, wie er das
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