Menschenhafen
nichts.
Jetzt komm schon. Komm schon, Simon.
Sie sah es vor sich, sah geradewegs durch das Wasser, weiter, als man eigentlich sehen konnte, bis auf den Grund, wo Simon lag und zwischen Schlick und rostigen Gegenständen kämpfte. Sie sah vor sich, wie er sich befreite und der Sack sich öffnete und er sich vom Grund abstieß, zum Licht.
Doch nichts von alldem passierte. Es geschah nur in ihrem Inneren. Etwas Weggeworfenes und Versunkenes befreite sich tief unten in der Dunkelheit, sprengte die Ketten, mit denen sie es umwickelt hatten, und schwamm zur Oberfläche. Es stieg durch ihren Körper auf und blieb wie ein Kloß in ihrem Hals hängen. Sie hätte am liebsten geweint.
Ich liebe diesen verdammten Menschen doch.
Sie begann zu zittern.
Liebe ihn. Verschwinde nicht.
Als hinter ihr jemand »Vier Minuten!« rief, stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie ballte die Hände zu Fäusten, presste sie aufs Herz und verfluchte sich selbst, weil alles bereits zu spät war, es würde wieder passieren, es würde …
Da spürte sie eine Hand auf ihrem Arm. Ihre Augen waren getrübt, als sie aufblickte und sah, dass die Hand Johan gehörte. Er zwinkerte ihr zu und nickte. Sie begriff nicht, was er meinte, wie er so ruhig bleiben konnte.
Der Mann, der Simon ins Wasser gestoßen hatte, riss sich das Hemd vom Leib und sprang ins Wasser. Anna-Greta drückte Johans Hand, während die Menschenmenge noch weiter nach vorn drängte. Der Mann tauchte wieder auf. Er schüttelte den Kopf, atmete tief ein und tauchte wieder unter.
Dann hörte man eine Stimme vom Land.
»Sucht ihr nach mir?«
Es raschelte, als Stoff an Stoff rieb und sich das gesamte Publikum auf einen Schlag umdrehte. An der Fischerhütte stand Simon. Ein Muster aus roten Linien, das die Ketten hinterlassen hatten, verlief kreuz und quer auf seinem Körper. Er ging zu Göran und übergab ihm die abgeschlossenen Handschellen.
»Ich hab mir gedacht, dass du die vielleicht wiederhaben willst.«
Simon zog den Bademantel an, und neben Anna-Greta rief jemand dem Mann aus Nåten, der mittlerweile wieder aufgetaucht war, die Worte zu: »Kalle, er ist hier! Du kannst aufhören zu suchen!«
»Aber wie zum Teufel!«, rief Kalle aus dem Wasser, und die kollektive Lähmung hatte ein Ende. Erst hörte man Lachen, dann ertönte tosender Applaus. Wie das Klappern eines Vogelschwarms, der vom Wasser abhebt, schallte er übers Meer und wollte nicht enden.
Die Leute gingen zu Simon und tätschelten ihn, als wäre er ihr größter Schatz, der endlich vom Meeresgrund geborgen worden war. Kalles Einstellung war weniger positiv, als es ihm zähneklappernd gelang, sich auf den Schiffsanleger zu hieven. Das hatte Simon offenbar vorhergesehen, denn er holte eine Flasche Schnaps aus der Fischerhütte und lud Kalle zu ein paar Kurzen ein, damit er wieder auftaute. Eine Viertelstunde später war Kalle der enthusiastischste Bewunderer von Simons Leistung.
Die Leute standen um die Fischerhütte versammelt, vor der die beiden Männer nebeneinander auf der Treppe standen. Man lachte über Kalle, der vom Schnaps und den heftigen Gefühlswallungen, die er binnen kurzer Zeit durchlebt hatte, beschwipst war, als er mit den Armen auf Simon deutete und rief: »Der Kerl war doch verdammt nochmal gefesselt wie … wie ich weiß nicht was, ich hab es doch selbst gemacht! Nee, man fragt sich schon, ob man nicht mit einem Gespenst zusammensitzt!« Er packte Simons Schulter. »Wie zum Teufel hast du das gemacht?«
Simon machte »Buh«, und die Menge lachte erneut.
Anna-Greta war mit Johan auf dem Schiffsanleger stehen geblieben. Ein Leben als Händlerin hatte sie die Kunst gelehrt, die Gefühle der Menschen zu manipulieren, aber offensichtlich war sie jemandem begegnet, der ihr in dieser Hinsicht überlegen war. Die Demütigung, die Simon angehaftet hatte, als er gefesselt auf dem Schiffsanleger stand, hatte sich auf Kalle übertragen, als dieser mit vergeblichem Heldenmut in die See gesprungen war. Anschließend hatte Simon das Gleichgewicht geschickt wiederhergestellt, indem er Kalle ins Scheinwerferlicht der eigenen Heldentat hineinzog. Jetzt war alles eitel Sonnenschein.
Geschickt , dachte Anna-Greta. Raffiniert.
Sie war erleichtert, sie war verwirrt, sie war wütend. Vor allem wütend. Sie war getäuscht worden. Simon hatte sie dazu gebracht, sich mitten unter allen Leuten wie ein Idiot zu benehmen. Nicht dass es irgendwem aufgefallen wäre, aber sie wusste es. Sie hatte die Kontrolle
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