Menschenhafen
erkennen.
Der Fotograf machte ein paar Aufnahmen von Simon, der am Rand des Schiffsanlegers stand. Ein Mann, den Anna-Greta nie zuvor gesehen hatte – seinen schmalen Händen nach zu urteilen ein Stockholmer –, trat vor und erklärte sich bereit, den Sack zu verknoten. Simon wandte sich an Johan und sagte: »Magst du ein letztes Mal kontrollieren?«
Johan zog an den Ketten, und während er dies tat, sah Anna-Greta, dass Simon sich vorbeugte und ihm etwas zuflüsterte. Dann trat Johan einen Schritt zurück und nickte. Der Stockholmer zog den Sack um Simon hoch und verknotete ihn mit einem Tauende.
Es war ein schrecklicher Anblick. Der braune Sack an der äußersten Kante war ein dunkler Punkt, etwas Endgültiges. Die Leute schienen dies zu spüren, denn das fröhliche Geplauder und die Scherze waren verstummt, sodass inzwischen vollkommene Stille herrschte.
»Werft mich hinein«, hörte man Simons Stimme aus dem Sack.
Es vergingen fünf Sekunden. Es vergingen zehn. Es blieb weiter still, keiner meldete sich zu Wort. Noch war die Sache nicht unwiderruflich. Noch konnte man den Sack wieder öffnen und die Ketten lösen. Sobald der Sack jedoch im Wasser landete, ließ sich nicht mehr viel machen. Das Wasser vor dem Schiffsanleger war sechs Meter tief.
Wer den Sack hineinwarf, trug die Verantwortung, falls Simon scheiterte. Die Leute sahen einander an, aber keiner trat vor. Simon bewegte sich im Innern des Sacks, die Ketten knirschten und quietschten schwach, als sich die Kettenglieder aneinander rieben. Ein paar Kameras klickten. Immer noch keiner.
»Werft mich ins Meer.«
Vermutlich wäre es einfacher gewesen, wenn Simon etwas Alltägliches und Witziges gesagt hätte wie: »Soll ich hier etwa den ganzen Tag stehen?« oder: »Die Ketten fangen schon an zu rosten«, aber Simon hatte offensichtlich kein Interesse daran, der Situation ihre Dramatik zu nehmen.
Trotzdem sah es ganz so aus, als würde er dazu gezwungen werden. Nach einer Minute hatte sich immer noch keiner gemeldet. Die Leute traten unruhig auf der Stelle. Vielleicht fühlte man sich damals so, als Jesus die Worte sprach: »Wer selber ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.«
Auf einmal räusperte sich der muskulöse Mann aus Nåten, ging ohne großes Zeremoniell hin und stieß den Sack ins Wasser. Er schlug mit einem dumpfen Laut aufs Wasser, und das Publikum stöhnte kollektiv auf. Menschen drängten nach vorn, um besser sehen zu können, und Anna-Greta musste sich dagegenstemmen, um von der Bewegung der Menge nicht ins Wasser geschoben zu werden.
Es gab nicht viel zu sehen. Ein Strom aus Luftblasen stieg von dem Sack auf, während er versank, aber eine halbe Minute später war die letzte Blase an der Oberfläche zerplatzt, und alles, was man sah, war dunkles Wasser. Wer gehofft hatte, etwas von Simons Kampf sehen zu können, wurde enttäuscht, denn die Sicht reichte kaum mehr als drei Meter tief.
Als eine Minute vergangen war, hörte man die ersten Leute murmeln: Wie war das eigentlich, wie lange konnte man die Luft anhalten? Konnte man den Kerl herausholen, falls er es nicht schaffte? Gab es zu diesen Vorhängeschlössern auch Schlüssel?
Eine weitere Minute verstrich, und mittlerweile gab es viele, die sich unruhig wanden. Warum hatte man an dem Sack keine Rettungsleine befestigt, warum war vorher keine Zeit genannt worden, ab der man versuchen sollte, den Kerl zu retten, warum …?
Die größten Sorgen schien sich der Mann zu machen, der den Sack hineingestoßen hatte. Er spähte ins Wasser hinab, und sein Körper, der sich seiner Kraft und Autorität so sicher gewesen war, war nun in sich zusammengesunken, seine Bewegungen waren ruckartig, die Augen schossen hin und her, er rieb die Hände aneinander.
Anna-Greta stand mucksmäuschenstill und umarmte sich selbst. Ganz fest. Sie war von Menschen umgeben, die abwechselnd auf ihre Uhren und auf die Wasseroberfläche schauten, Anna-Gretas Blick war dagegen auf den Leuchtturm von Gåvasten in der Ferne gerichtet. Sie starrte den Leuchtturm an und wartete. Wartete auf das Platschen von Simons Körper, der die Wasseroberfläche durchstieß, das heftige Luftholen.
Aber es kam nicht.
Als drei Minuten vergangen waren, rief jemand: »Aber er stirbt doch!« Man hörte zustimmendes Murmeln, trotzdem unternahm niemand etwas. Anna-Greta ließ den Leuchtturm aus den Augen und konnte nicht verhindern, dass sich ihr Blick der Wasseroberfläche zuwandte. Sie war schwarz und leer. Es rührte sich
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