Menschenhafen
die Tasche schon wieder schließen und der Vorsehung für diesen kleinen Funken Gnade danken, als er sah, dass das Futter seltsam ausbeulte. Er schob die Finger hinter das Futter und fand ein schmales Etui mit einer Injektionsnadel sowie einem Gläschen, in dem ein weißes Pulver war.
Es war ein strahlend schöner Sommertag. Es herrschte tiefe Stille, und nur das Sirren der Insekten setzte die Luft in Bewegung. Ein Schwanenpaar lehrte seine Jungvögel, auf der Förde nach Futter zu suchen. In der Fliederlaube am Wegrand saß Simon wie betäubt mit einem Glas und einem Etui in der Hand. Ja, sie fanden Platz in seiner Hand. Zwei unschuldige Gegenstände, die nicht viel hermachten, aber eine ganze Armee von Teufeln in sich bargen. Er wusste nicht, was er tun sollte, ihm fehlte die Kraft, etwas zu unternehmen.
Als Anna-Greta auf dem Weg vorbeikam, war da offenbar etwas in seinem leeren Blick, was sie stehen bleiben ließ.
»Was ist los?«, fragte sie.
Simon saß immer noch mit offener und ausgestreckter Hand auf seinem Stuhl, als hätte er ein Geschenk, das er ihr überreichen wollte. Für Lügen fehlte ihm die Energie.
»Meine Frau ist drogensüchtig«, sagte er.
Anna-Greta betrachtete die Gegenstände in seiner Hand. »Was ist das?«
»Ich weiß es nicht. Amphetamin, glaube ich.«
Simon war kurz davor, in Tränen auszubrechen, riss sich aber zusammen. Wenn Anna-Greta überhaupt wusste, was sich hinter dem Namen Amphetamin verbarg, war es keine gute Idee, mit ihr darüber zu sprechen. Johan kam oft vorbei, um sich mit Simon zu unterhalten, und Anna-Greta wollte bestimmt nicht, dass sich ihr Sohn mit Drogenabhängigen traf. Vielleicht wollte sie ihm sogar das Haus nicht länger vermieten.
Simon räusperte sich und sagte: »Aber die Lage ist unter Kontrolle.«
Anna-Greta sah ihn scharf an. »Wie soll das denn gehen?« Als Simon stumm blieb, fragte sie: »Was haben Sie damit vor?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe gedacht … ich könnte es vielleicht vergraben.«
»Tun Sie das nicht. Dann wird Ihre Frau Sie nur zwingen, ihr zu verraten, wo Sie es verbuddelt haben. Ich habe genug Alkoholiker gesehen. Ich glaube nicht, dass es da einen großen Unterschied gibt. Werfen Sie es lieber ins Meer.«
Simon blickte zum Bootssteg hinunter, der auf der glitzernden Wasserfläche zu treiben schien. Er wollte den Ort nicht besudeln, an dem er jeden Morgen schwimmen ging. »Hier?«, fragte er, als wollte er um Erlaubnis bitten.
Auch Anna-Greta schaute zum Steg und schien das Gleiche zu denken wie er. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich wollte gerade nach Nåten. Kommen Sie doch mit, dann können Sie … den Müll unterwegs entsorgen.«
Simon begleitete sie zum Bootssteg hinunter und stand wie gelähmt da, während Anna-Greta geübt den Motor anriss, losmachte und ihn zum Einsteigen aufforderte. Als sie abgelegt hatten, sah er sie verstohlen an, während sie an der Pinne saß und mit halb geschlossenen Augen aufs Meer hinausblickte.
Sie war keine strahlende Schönheit, dazu waren ihre Wangenknochen viel zu markant, lagen ihre Augen eine Spur zu tief. Aber Ausstrahlung hatte sie, und Simon ertappte sich dabei, einem Gedankengang zu folgen, der dem bei seinem ersten Besuch auf Domarö ähnelte.
Fünf Jahre, zehn Jahre, das ganze Leben. Könnte ich?
Ja.
Er hatte in der Welt der Artisten genug vergängliche Schönheit gesehen, um erkennen zu können, dass Anna-Gretas äußere Erscheinung etwas Beständiges hatte. Sie gehörte zu jenen vom Glück begünstigten Menschen, die mit den Jahren tatsächlich schöner werden.
Anna-Greta begegnete seinem Blick, und Simon errötete ein wenig und ließ den Gedanken fallen. Sie hatte weder in Gesten noch Worten das geringste Interesse dieser Art an ihm angedeutet. Außerdem war er ja verheiratet. Er hatte kein Recht, sich solchen Gedanken hinzugeben.
Anna-Greta nahm Gas weg und nickte zum Wasser hin. Simon richtete sich unsicher auf und hielt das Etui und das Gläschen über die Wasserfläche. »Es kommt einem vor, als sollte man etwas singen.«
»Und was?«
»Keine Ahnung.«
Er warf die Sachen ins Meer und setzte sich wieder. Anna-Greta gab Gas. Es war ihm, als hätten sie soeben gemeinsam ein Ritual vollzogen, daher auch der Einfall mit dem Singen. Er wusste nicht, was für ein Ritual es war oder welche Bedeutung es hatte. Es kam ihm kein bestimmtes Lied in den Sinn. In seinem Inneren gab es nur eine Leere und Furcht, die wäh rend ihres Aufenthalts in Nåten immer größer wurde,
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