Menschenhafen
Gabenstein, genannt wurde. Es war der Ort, an dem man dem Meer, zum Beispiel nach einer glücklich verlaufenen Überfahrt nach Åland und zurück, Gaben darreichte.
Wie die nächste Phase begann, verliert sich im Dunkel der Geschichte. Denkbar ist, dass ein Mensch auf Gåvasten gestrandet und daraufhin von den Wellen in die Tiefe gerissen worden oder schlichtweg verschwunden war. Jedenfalls merkte man, dass die Fischzüge nach diesem Ereignis wesentlich besser verliefen und das Meer den ganzen Sommer über freundlich gesinnt war.
Das brachte die Leute ins Grübeln. Im folgenden Sommer erklärte ein hochmütiger junger Mann, der solchen Fantastereien keinen Glauben schenken mochte, sich bereit, sich auf Gåvasten aussetzen zu lassen. Er wurde mit Essen und Trinken für eine Woche ausgerüstet, und wenn sich in diesem Zeitraum nichts ereignete, würde man wiederkehren und ihn erlösen.
Man ließ den jungen Mann auf dem kahlen Felsen zurück, ruderte zum eine Seemeile entfernten Fischerdorf und fuhr fort, Netze auszulegen, als wäre nichts passiert. Schon am nächsten Tag konnte man den größten Fang des Sommers verbuchen, und die Heringe strömten auch in den folgenden Tagen in die Netze.
Als die Woche vorüber war und man nach Gåvasten zurückkehrte, war der junge Mann verschwunden. Man inspizierte den zurückgelassenen Proviant und stellte fest, dass er kaum angerührt worden war. Er konnte nicht viele Stunden auf Gåvasten verbracht haben, ehe das Meer seinen Tribut forderte und im Gegenzug Heringe gab.
Damit war die Sache klar. Das Problem bestand jetzt darin, wie man in Zukunft vorgehen sollte.
Der Ertrag dieses Sommers war groß, und auf dem Oktobermarkt konnte man mehr als doppelt so viel Fisch verkaufen wie in früheren Jahren. Während des Winters wurde weiter diskutiert, bis man schließlich Folgendes beschloss: Da sich niemand mehr bereit erklärte, als Gabe für das Meer herzuhalten, würde man abstimmen. Frauen und Kinder hatten kein Stimmrecht, liefen dadurch aber auch nicht Gefahr, geopfert zu werden. Das machten die Männer unter sich aus.
Nun wäre es schön, von der heroischen Resignation erzählen zu können, mit welcher der Auserwählte die Entscheidung hinnahm. Nur war es leider nicht so. Abgestimmt wurde ohne Pardon, und die Wahl entwickelte sich zu einer Abstimmung darüber, wer in der Gemeinschaft des Fischerdorfs am unbeliebtesten war. Meistens wurde irgendeine übellaunige und verstockte Person auserkoren, und die zweifelhafte Ehre stimmte den betroffenen Mann nicht milder.
Mit Hieben und Schlägen musste man das Opfer nach Gåvasten schaffen und anschließend schleunigst davonrudern, während seine Verwünschungen über das Wasser schallten. Manchmal war man jedoch nicht einmal außer Hörweite gelangt, als die Verwünschungen verstummten. Niemand blickte auf.
Es wurde üblich, das Opfer zu fesseln und in Ketten zu legen, ehe man es auf Gåvasten absetzte. Mit den Jahren wurde das Verfahren noch weiter rationalisiert. Man war nicht gewillt, überhaupt einen Fuß auf Gåvasten zu setzen, und es zeigte sich, dass es ausreichte, das Opfer zu fesseln und im Meer zu versenken. Man erzielte dennoch das gewünschte Ergebnis. Die Heringsschwärme kamen, und das Meer suchte sich keine weiteren Opfer.
Zu jener Zeit war man auf Domarö dauerhaft sesshaft geworden. Der Pakt mit dem Meer machte die Bevölkerung so reich, wie man es von der Fischerei nur werden konnte, und die Häuser standen denen auf dem Festland in nichts nach. Trotzdem war es keine glückliche Insel.
Das alljährliche Opfer forderte Tribut in den Seelen der Menschen. Es dauerte nicht viele Jahre, bis man aufhörte, Frauen und Kinder von der Opferpflicht auszunehmen. Da das Stimmrecht weiter ausschließlich den Männern vorbehalten war, muss zu deren Schande gestanden werden, dass Frauen und Kinder am ehesten Gefahr liefen, auserwählt zu werden.
Kein Mensch war wohl wirklich glücklich darüber, ein Kind fesseln zu müssen und anschließend, während es weinte und um sein Leben bettelte, über die Reling zu werfen und untergehen zu lassen. Aber man tat es. Man tat es, denn so war es Brauch. Und dieser Brauch zerfraß die Menschen innerlich.
Niemand freute sich über den Frühling, denn das Frühjahr war nur ein Vorbote des Sommers. Wenn die Bäume beim späten Ausschlagen des Laubs in den Schären grün gefleckt wurden, war es nicht mehr lange bis zur Sommersonnenwende, und ganz Domarö trieb die Angst vor diesem Tag um,
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