Menschenhafen
schüttelten den Kopf. Ihre Reaktion reichte als Antwort völlig aus.
Zur Rechten Simons saß Tora Österberg, eine alte, in der Kirchengemeinde aktive Frau, die ganz allein an der Südseite der Insel lebte. Sie tätschelte sein Knie und sagte: »Den Teufel gibt es, darauf kannst du dich verlassen. Aber hiermit hat er nichts zu tun.«
Gustav Jansson war bis zu diesem Moment erstaunlicherweise stumm geblieben. In seinen besten Zeiten war er der hervorragendste Akkordeonspieler des Dorfs gewesen, ein Trinker von Gottes Gnaden und Witzbold. Jetzt konnte er sich nicht mehr im Zaume halten. »Hat er dich vielleicht sogar schon einmal besucht, Tora?«
Toras Augen wurden schmaler. »Ja, das hat er, Gustav, und er sah haargenau so aus wie du. Auch wenn seine Nase nicht ganz so rot war.«
Gustav lachte und schaute sich um, als wäre er hochzufrieden, in einem Atemzug mit dem Fürsten der Finsternis genannt zu werden. Simon erkannte, dass sich ein normaler menschlicher Mechanismus Bahn brach. Hier gab es eine geschlossene Gesellschaft, in der jeder seine Rolle hatte. Nun hatte man ein neues Publikum bekommen und begann daraufhin sofort, seine Rolle etwas übertrieben zu spielen. Vielleicht versuchte man aber auch vom eigentlichen Thema abzulenken.
»Aber warum diese Geheimnistuerei?«, fragte Simon. »Warum dürfen nicht alle, die hier wohnen, davon wissen?«
Die ungezwungenere Stimmung, die sich gerade zu den Teilnehmern der Versammlung gesellen wollte, hielt im Türrahmen inne. Das Gewicht kehrte als physische Kraft wieder, sodass Schultern herabfielen und Körper sich auf Stühlen zusammenkauerten. Anna-Greta sagte: »Ich denke, du hast verstanden, dass dies nicht der Vergangenheit angehört, sondern heute noch geschieht.«
»Ja, aber …«
»Wir übergeben dem Meer zwar keine Menschen mehr, aber es holt sie sich auch so. Vielleicht nicht gerade einen pro Jahr, aber viele. Im Sommer wie im Winter.«
Der Einwand, der während Anna-Gretas gesamter Erzählung in Simon rumort hatte, galt auch für die Gruppe, die nun im Missionshaus zusammenhockte, und endlich durfte er ihn aussprechen: »Aber man braucht doch nur wegziehen! Die Leute damals hätten es tun können und ihr … wir können es auch. Wenn es wirklich so ist, dass sich das Meer auf widernatürliche Art Menschen holt, wenn alle in der Angst leben, das nächste Opfer zu werden, warum zieht man dann nicht einfach um und verlässt diese Insel?«
»So einfach ist das leider nicht.«
»Und warum nicht?«
Anna-Greta holte tief Luft und wollte schon antworten, als Karl-Erik sich auf seinem Stuhl aufrichtete und sagte: »Ihr könnt mich ja gerne berichtigen, wenn ich mich irre, aber ich persönlich habe gedacht, wir würden heute zusammenkommen, um über die Sache mit Sigrid zu sprechen, und nicht um Dinge durchzukauen, die wir längst wissen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber zu den Nachrichten will ich spätestens zu Hause sein.«
Armbanduhren wurden entblößt, Blicke darauf geworfen. Einige beklagten sich darüber, wie spät es schon war, und Simon handelte sich einige schiefe Blicke ein, da sein Auftritt das Ganze so in die Länge gezogen hatte.
Simon wunderte sich darüber, dass sie hier saßen und über grauenvolle Mächte redeten, wie man mit ihnen umgehen sollte und sein eigenes Überleben sichern konnte. Und dass dies angesichts des Risikos, die Fernsehnachrichten zu verpassen, zu verblassen schien. Dann aber begriff er, dass es nur für ihn so wirkte. Für die anderen war die Bedrohung zu etwas Alltäglichem und einer traurigen Tatsache geworden, über die man nicht viele Worte verlieren musste. Wie Menschen in einem Kriegsgebiet oder einer belagerten Stadt hielten sie sich an die erfreulichen Seiten des Daseins, die es trotz allem auch noch gab. Wenn man denn die Fernsehnachrichten als etwas Erfreuliches betrachten konnte.
Simon hob die Hände vor die Brust, um anzuzeigen, dass er aufgab und nicht noch mehr von ihrer wertvollen Zeit in Anspruch nehmen würde. Fürs Erste jedenfalls nicht.
Anna-Greta nickte Elof zu. Dieser schien verwirrt, begriff dann jedoch, dass von ihm erwartet wurde, an dem Punkt weiterzumachen, an dem er zwei Stunden zuvor verstummt war.
»Ja also, wie ich vorhin schon gesagt habe … bevor wir unterbrochen wurden … ich kann das, was passiert ist, eigentlich nur positiv finden.« Simon sah, dass einige andere den Kopf schüttelten, aber Elof fuhr fort: »Es ist noch nie
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