Menschenhafen
Geschichte. Wenn die Clique ein Hofstaat ist, so hat sie in diesem Menschen ihren Narren. Gelegentlich werden dem Narren ein paar Brocken Freundlichkeit oder einladende Worte zugeworfen, dafür, dass er mit seinen Schellen rasselt oder etwas Dummes sagt, das man anschließend immer und immer wieder zitieren kann.
Dies ist die Funktion des Narren. Das ist zwar traurig, kann aber funktionieren, solange sich der halb Ausgestoßene seiner Grenzen bewusst ist. Erst wenn er versucht, sie zu überschreiten, schlägt die Tragik zu, und alles geht schief.
Henrik und Björn waren also zu zweit.
Im Gegensatz zu den anderen in der Clique waren sie Kinder ganzjährig ansässiger Inselbewohner. Björns Vater war Schreiner und Stegbauer, seine Mutter arbeitete in der Altenpflege. Henrik lebte bei seiner alleinerziehenden Mutter, und es blieb im Dunkeln, was sie beruflich machte.
Normalerweise gehörten die Kinder der Sommerurlauber und der Inselbewohner zu getrennten Stämmen, die in verschiedenen Lagern lebten, aber in diesem speziellen Fall gab es einen Vermittler: Anders. Seine Mutter war Urlauberin gewesen, hatte seinen Vater kennengelernt und war zu Anders’ Geburt nach Domarö gezogen. Die Sache hielt ein gutes Jahr, dann hatte seine Mutter das Zubringerboot zurück in die Stadt genommen und ihren Sohn mitgenommen.
Anders fuhr in den Ferien und an bestimmten Wochenenden hinaus, um bei seinem Vater zu sein, und stand somit mit einem Fuß in jedem der beiden Lager. Er hatte seine Sommerfreunde auf Kattudden, spielte im Winter jedoch auch manchmal mit Henrik und Björn, den einzigen Gleichaltrigen, die es damals im Dorf gab.
Sie fuhren Schlitten auf dem Hang, der zum Schiffsanleger hinunterführte, spielten in verlassenen Scheunen und nannten sich gegenseitig »Idiot«.
»Sollen wir was machen, Idiot?«
»Warum nicht, Idiot. Wo ist der andere Idiot?«
Ein paar Jahre später näherten sich Henrik und Björn durch Anders’ Vermittlung der Sommerclique und wurden bis zu einem gewissen Grad ein Teil von ihr. Sie vermieden es allerdings, sich gegenseitig Idiot zu nennen, wenn die anderen es hören konnten.
Es gab einen Sommer, einen einzigen, in dem Henrik und Björn gleichberechtigte Mitglieder der Clique waren. 1983, Henrik war dreizehn und Björn zwölf, waren sie immer und überall gesucht und erwünscht. Der Grund für ihre Beliebtheit war rein mechanisch: Henrik hatte ein Lastenmoped bekommen.
Da es auf Domarö keine Autos gab, wurde allen Kindern erlaubt, Fahrrad zu fahren, so oft und so viel sie wollten, sobald sie diese Kunst beherrschten, und zwischen den Häusern, auf den Waldwegen, zwischen Hafen und Kattudden wurde geradelt, was das Zeug hielt. Im Sommer 1983 erschienen einem die Fahrräder plötzlich ein bisschen kindisch, denn es gab schärfere Geräte.
Auch wenn Henrik eigentlich noch nicht alt genug war für einen Bock, hatte sein Vater ihm dennoch das alte, aber frisch überholte Lastenmoped aus demselben Grund überlassen, aus dem man Sechsjährigen erlaubte, überallhin zu radeln: wenn ein Unfall passierte, dann weil man etwas anfuhr, nicht weil man angefahren wurde. Außerdem war das Lastenmoped nicht sonderlich schnell. Fünfunddreißig, höchstens, bergab und mit Sonne und Wind im Rücken.
Die Ältesten in der Clique waren jedoch dreizehn, und neben den oft verrosteten Sommerhausrädern war das Lastenmoped ein Lamborghini. Es bedeutete Tempo und war cool und ein Statussymbol, und weil Henrik und Björn unzertrennlich waren, durfte auch Björn an Henriks Popularitätsboom teilhaben.
In diesem Sommer, und nur in diesem Sommer, manövrierte Henrik geschickt zwischen den Wünschen, Enttäuschungen und kleinlichen Intrigen, die es in jeder Gruppe gab. Das frisch gewonnene Gefühl dazuzugehören ließ ihn mutig werden, und auf einmal machte er alles richtig. Er beugte sich nicht Joels Forderung, den Bock mal fahren zu dürfen, wenn alle versammelt waren. Dagegen ließ er Joel Probe fahren, wenn sie zu zweit waren, wodurch Henrik Punkte gutmachte, ohne seinen Status zu verlieren, indem er Joel vor den Augen aller anderen ans Steuer ließ.
Dagegen sorgte er dafür, Elin mitnehmen zu können, wenn er wusste, dass andere die beiden sehen würden, weil die Kombination eigenes Moped – Elin praktisch unschlagbar war. Die Hormone spielten verrückt, und Elin hatte einen Busen bekommen. Wenn Henrik mit Elin auf der Ladefläche vor den Laden bog und ihre Brüste im Rhythmus der Schlaglöcher in der Straße
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