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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
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und zwar in sozialer Hinsicht. In keiner Lebensphase können soziale Netze rascher aufgebaut werden als in der Jugendzeit. Von noch bis vor Kurzem »wild« lebenden Jäger – und Sammlergruppen ist bekannt, dass es vor allem die Jugendlichen sind, die die Außenbeziehungen zu befreundeten Clan-Gruppen unterhalten – das Facebook der Geschichte. Noch heute ist das Beziehungsnetz der meisten Erwachsenen ja von Kontakten geprägt, die sie als Heranwachsende geknüpft haben.
    Und dann ist da diese ungeheure Offenheit für Neues, diese enorme Begeisterungsfähigkeit, dieses zügellose Streben nach Glück, dieses Lockprogramm, das Jugendliche in neue Welten zieht. Wenn es das nicht gäbe, dann säßen wir womöglich noch immer in Erdlöchern, hörten keinen Mozart, keinen Schubert, keine Rockmusik – alle unsere Götter hatten ja noch Flaum um den Mund!
    Hier also liegt die Tragik dieses ganz speziellen Menschenvölkchens, den Jugendlichen. Ihr Gehirn hat im Bereich der assoziativen Leistungen sein höchstes Leistungsniveau erreicht, auch ihr Immunsystem ist auf dem Gipfel angelangt. Nie wieder im Leben heilen Verletzungen so schnell aus, nie wieder auch wird die Belastbarkeit größer sein – Hitze, Hunger und Kälte werden von Jugendlichen besser ertragen als von Erwachsenen. Dieses Völkchen ist bereit. Es scharrt mit den Hufen ...
    ... und bekommt dann in unseren Breitengraden nicht etwa die Aufgabe, das Feuer des Stammes zu hüten, sondern – brav den Erwachsenen zuzuhören. Tatsächlich geht heute das Leben vieler Jugendlicher genauso weiter wie im Kindergarten und in der
Grundschule. Wo sie sich längst über die Kindheit hinaus entwickelt haben, weisen wir ihnen noch immer die Aufgaben von Kindern zu. Sie sitzen im Warteraum des Lebens und langweilen sich. Dass so viele Jugendliche debilisiert durch Einkaufspassagen rennen oder sich auf Parkplätzen die Beine ins Becken stehen, hat jedenfalls nichts mit ihrer eigentlichen evolutionären Berufung zu tun – es ist vielmehr Ausdruck einer maßlosen organisierten Unterforderung! Ausdruck eines den Jugendlichen aufgezwungenen Lebens, das nicht ihrem Entwicklungsstand und nicht ihren Fähigkeiten entspricht.
    Kein Wunder, dass das angeblich im Hirn der Jugendlichen verankerte Problemverhalten in anderen Gesellschaften gar nicht thematisiert wird. Wo Eltern hierzulande bei den ersten Pickeln den Schwefelgeruch des Fegefeuers zu riechen glauben, werden in anderen Gesellschaften freudige Initiationsfeste veranstaltet. Für ein und dasselbe Völkchen.
    Mythos Selbstständigkeit
    Eine beliebte Annahme unter Eltern lautet: Sie könnten ihre Kinder rasch auf den Weg zur Selbstständigkeit bringen, indem sie ihnen schon von klein auf beibringen, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Selbst in den Schlaf finden, sich selbst trösten, wenn sie weinen, früh schon im eigenen Zimmer schlafen – all das sei sozusagen pädagogisch wertvoll. Die Hoffnung dahinter: Indem die Kleinen wie Größere behandelt werden, werden sie vielleicht tatsächlich schneller groß!
    Und wie gut passte diese Hoffnung in die auf Individualismus und Unabhängigkeit gerichtete Philosophie der Nachkriegsära. Nur leider – passt sie nicht ins evolutionäre Programm der Kinder.
Wie wir gesehen haben, ist da die frühe Entwöhnung von elterlicher Zuwendung nicht vorgesehen, im Gegenteil: Die Kleinen wurden in ihrem ursprünglichen Kontext ja viel intensiver und viel länger im Nahbereich der Erwachsenen umsorgt, gestillt, getragen ...
    Wenn sich Selbstständigkeit allerdings nicht durch die frühe Verknappung elterlicher Nähe einstellt, wie dann? Das Leben war ja auch in der Vergangenheit kein Wunschkonzert und zeitiges Auf-eigenen-Füßen-Stehen dringend gefragt.
    Beobachtungen an Stammesgemeinschaften, die den Lebensstil der Jäger und Sammler bis heute beibehalten haben, unterstreichen das Paradox: Während sich hierzulande noch herzzerreißende Trennungsszenen an den Toren der Kindergärten abspielen, sind die Kleinen dort schon mit Pfeil und Bogen im Wald unterwegs – ohne Aufsicht der Eltern. Mädchen und Jungen in Jäger-und Sammlergesellschaften verbringen mit drei bis vier Jahren mehr als die Hälfte des Tages mit anderen Kindern, fern von ihren Müttern. Auch bei einem direkten Vergleich zwischen den Kindern der Kung aus der Kalahari und Londoner Kindern zeigte sich, dass die Kinder der Kung (die noch mit drei Jahren ihrer Mutter am Busen hingen) mit fünf Jahren sozial kompetenter und

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