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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
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unabhängiger waren.
    Wie schaffen die Kinder das nur? Sie schaffen es durch ihren eingebauten »Sozialentwicklungsmotor«. Denn tatsächlich haben Kinder (und selbst schon Babys) ja nicht nur ein »Näheprogramm«, das sie an der Brust oder dem Schoß der Mutter festklebt. Sie haben auch eine Art Gegenprogramm – einen »Erforschungsdrang«, von Psychologen auch Selbstwirksamkeitstrieb genannt. Dieses Programm treibt kleine Kinder von innen heraus dazu, die Welt zu erkunden, zu begreifen und in sie einzugreifen. Ein Kind, das diesen Trieb ausleben darf, erlebt sich als eigene, »bewegende« Person – nicht nur als Anhängsel seiner Eltern. Die Selbstwirksamkeit ist damit die Vorstufe des Selbstbewusstseins. 6
    Damit geht die Reise in die Selbstständigkeit aber erst richtig los. Denn aus evolutionärer Sicht steht ja mit etwa drei Jahren der
»große Sprung« an, also die relativ tief greifende Loslösung aus dem unmittelbaren Schutz-, Nähr – und Nahbereich der Mutter. Jetzt wurden die Kinder in den »sozialen Quirl« des Stammes eingesogen und fanden vor allem in der gemischtaltrigen Kindergruppe ihr neues Habitat. In diesem neuen Umfeld musste das jetzt im wahrsten Sinn des Wortes entwöhnte Kleinkind einen von Grund auf neuen Lebensstil erlernen – einen sozialen Lebensstil. Da lernte es sich nach den Größeren zu strecken, da lernte es auch, sich auf Kleinere einzustellen. Da wurde es sozial kompetent.
    Selbstständigkeit – ein »sozialer« Weg
    Aus evolutionärer Sicht suchen wir den Schlüssel zur Selbstständigkeit deshalb vergeblich in der Wiege. Selbstständigkeit kann einem Kind nicht durch den frühen Entzug von Nähe eingeimpft werden. Das passt auch zu den Einschätzungen der modernen Entwicklungspsychologie: Kinder können erst lernen, sich auf sich selbst zu verlassen, wenn ihr Selbst sich gebildet hat – ein Prozess, der in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres erst beginnt.
    Echte Selbstständigkeit ist also das Resultat einer sozialen Dynamik – sie wird nicht von außen gemacht und sie entsteht auch nicht, indem Kinder durch Erwachsene begrenzt, beschnitten und gesteuert werden. Sie entsteht, indem sich Kinder als soziale Wesen – vor allem unter ihresgleichen – entfalten können.
    Und damit schließt sich der Kreis. Aus evolutionärer Sicht bekamen Kinder viel Nähe – mehr, als wir ihnen heute oft geben wollen oder auch geben können. Aber sie bekamen eben auch Gelegenheit zur Selbstwirksamkeit und zur sozialen Entfaltung – und auch da: viel davon! Sie erlebten nicht nur die Nähe zu den versorgenden Erwachsenen, sondern auch die, ja, »Nähe« zu anderen Kindern, die ihren eigenen Kopf, ihre eigenen Vorstellungen, Ziele und Forderungen in den Ring werfen. Da musste sich
ein Kind zurechtfinden, da entwickelte es sein soziales Geschick. Da lernte es die »Grenzen« kennen – Grenzen, wie sie das Leben der anderen schreibt, nicht irgendein pädagogischer Ratgeber.
    Vielleicht sind wir auch einem falschen Bild aufgesessen. Bedeutet Selbstständigkeit in der menschlichen Entwicklung wirklich, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen oder gar »unabhängig« von anderen werden? Ganz sicher nicht. Unabhängigkeit ist möglicherweise ein Entwicklungsziel für einen Bergpuma, nicht aber für ein hypersoziales Wesen wie den Homo sapiens, der immer auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen war, die Ressourcen der Gruppe nutzen zu können. Selbstständigkeit heißt beim Menschen nicht »my way on the highway«, sie beruht vielmehr auf einem kompetenten Umgang mit anderen Menschen. Sie besteht darin, sich einklinken zu können – nicht sich auszuklinken. Auch der Weg zur Selbstständigkeit führt beim Menschen über die anderen.
    Ein Wort zum Egoismus
    Damit bietet sich hier eine gute Gelegenheit, um auf ein Vorurteil zu sprechen zu kommen, das sich in der Diskussion um die Evolution hartnäckig hält: Wir seien »von Natur aus« egoistisch, die Evolution laufe auf Selbstsucht nach dem Motto »Jeder gegen jeden« oder gar auf das »Recht des Stärkeren« hinaus. Das ist aus evolutionstheoretischen Gründen ein grobes Foul. Denn genauso wie Konkurrenz ist auch die Kooperation eine evolutionär angelegte Lebensstrategie. Tatsächlich sind in der Natur beide Modelle erfolgreich. Welches Modell bevorzugt wird, hängt vom Lebensmodell der jeweiligen Art ab.
    Das angestammte Lebensmodell des Menschen heißt eindeutig: gemeinsam stark sein. Das Leben des Menschen bis zu seiner

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