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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
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Sesshaftigkeit vor etwa 6.000 bis 10.000 Jahren war nun einmal nur als gut aufeinander eingespielte Gruppe zu schaffen. In diesem
Netz schwamm oder sank das Individuum. Ein Überleben war nur in Kooperation mit den anderen möglich. Nur wenn die Gruppe funktionierte, hatte der Einzelne eine Chance.
    Das heißt nicht, dass Menschen Engel sind, sie profitieren unter bestimmten Bedingungen durchaus auch von Konkurrenz, diese musste jedoch immer auch sozial eingebunden sein. Aber von einem angeblich naturbedingten Egoismus als Grundmodell beim Homo sapiens zu sprechen, ist schlichtweg unzulässig. Ja, das Maß an Egoismus, das wir uns heute leisten, hätten Menschen in ihrer Stammesgeschichte gar nicht überlebt. Und ob wir das heute tun, ist noch keine ausgemachte Sache.
    Diktatur der Evolution?
    Bleiben wir bei der Evolution. Nutzen wir diese Perspektive, um auch hier und heute klarer zu sehen. Blättern wir einmal den Katalog durch, wie ihn heutige Eltern zur Wahl der »Erstausstattung« geliefert bekommen, wie sie angeblich bei der Geburt eines Babys dringend angeschafft gehört. Da fallen zwei Lügen auf.
    Erstens: Die dort abgebildeten Models haben gar keine Kinder! Auf ihren Kleidern ist kein Fleck zu sehen, sie sind perfekt ausgeschlafen und sie kommen nicht vom Einkaufen, sondern von der Zahnreinigung.
    Und die zweite Lüge: Was da vorgestellt wird, ist gar nicht die »Grundausstattung« für ein Baby! Aus evolutionärer Sicht müssten Babys ja auch ohne Kinderbett, ohne einen schönen Kinderwagen und ohne ein buntes Mobile auf dem Wickeltisch sehr wohl zurechtkommen!
    Heißt das, dass wir jetzt auf Natur machen müssen, damit es unseren Kindern gut geht? Dass wir die Kinderbettchen besser
abschaffen, die Kinderwagen und die Gläschen sowieso? Dass wir uns dafür entschuldigen müssen, wenn wir Wägelchen schieben, Bettchen kaufen oder gar das Fläschchen geben?
    Gemach. Die Evolution hat uns viel zu sagen. Aber nichts vorzuschreiben. Gar nichts . Wir lesen heute mit großem Gewinn Bücher – das Schreiben und das Lesen mussten wir aber zuerst »erfinden«. Und so ist es auch mit unseren Kindern. Die Evolution hat sie fit gemacht, fit allerdings für ein Leben, das wir längst verlassen haben (und das aus gutem Grund – die wenigsten von uns zieht es ja wirklich zurück, mich jedenfalls nicht). Tatsächlich haben wir Menschen auf der Suche nach einem »besseren« Leben unsere ursprünglichen Lebensbedingungen ja immer schneller umgestaltet – so schnell irgendwann, dass unsere Gene nicht mehr Schritt halten konnten. Und so stehen wir heute, mitten im Atomzeitalter, mit einem Dilemma da: Die Umwelt, die wir uns geschaffen haben, ist blitzmodern – aber da drinnen haben wir noch eine altertümliche, ja zum großen Teil vorsintflutliche genetische Ausrüstung. Wir haben moderne Ideen im Kopf, aber recht antiquierte Gefühle im Bauch.
    Welche Probleme das schafft, sehen wir ganz akut, wenn wir Kinder bekommen: Sie beharren zunächst einmal auf ihren Bauchgefühlen und konfrontieren uns mit diesen »alten« Ansprüchen.
    Die Evolution kann dieses Dilemma nicht lösen. Denn dieser Widerspruch ist in ihrem Servicepaket mit drin. Es liegt nun einmal in unserer menschlichen Natur, dass wir uns wandeln und unser Leben immer wieder neu gestalten!
    Und deshalb kann uns die Evolution auch nicht diktieren , wie wir, bitteschön und mitten in unserem immer wieder neuen Leben mit unseren Kleinen umzugehen haben. Sollen wir es so machen, wie die Neuankömmlinge es erwarten? Oder sollen wir alteingesessenen Großen uns mit unseren modernen (und vielleicht praktischeren) Vorstellungen durchsetzen?
    Ich kenne dazu auch nicht die einzig richtige Antwort. Aber ich kann zumindest auf eine beruhigende Beobachtung verweisen:
Kinder können auch gedeihen, wenn wir sie anders aufziehen als früher. Wir können und dürfen neue Wege gehen.
    Aber wie anders dürfen die sein? Wie weit dürfen wir uns von den Zügeln der Vergangenheit lösen? Wir scheinen da an der Frage nach dem passenden Kompromiss nicht vorbeizukommen. Sie ist in jedem Bereich der kindlichen Entwicklung akut.
    Manchmal fällt die Antwort leicht, etwa bei der Frage nach den Süßigkeiten: Natürlich wurde den Kindern ihr »süßer Zahn« von der Evolution eingepflanzt – er sorgte dafür, dass die Kleinen die für ihre Ernährung wertvollen reifen Beeren aßen und die unreifen stehen ließen. Nur, ihr Sinn für Süßes, der sie früher zu den leckeren reifen

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