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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
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Die Kinder heute leben ja nicht in Bullerbü, sondern vielleicht an einer verkehrsreichen Straße. Und wo immer mehr Kinder von Verhaltensproblemen belastet sind, hakt es auch in vielen Kindergruppen. Lass die Kinder nur machen und alles wird gut – das ist deshalb auch nicht mein genereller Rat. Das mag in manchem Umfeld funktionieren (oft übrigens gerade dort, wo die besorgtesten Eltern leben), aber in vielen Nachbarschaften braucht es einen sichernden Rahmen – den Kindergarten etwa oder ein Spielgelände, auf dem eben doch ab und an ein paar Erwachsenenaugen zugegen sind.
    Aber ich bleibe dabei: Die wirkliche Gefahr rührt nicht daher, dass Kinder durch andere Kinder zu Schaden kommen. Sie besteht darin, dass Kinder immer mehr von Erwachsenen durch die Kindheit geschubst, gelockt oder gezogen werden. Dass sie diesen
eigenen Entwicklungsraum verlieren, der im evolutionären Kontext ihr angestammtes Anrecht war. Jedenfalls, wenn der Trend so weitergeht, erfinden wir noch die elektronische Fußfessel für Kinder – mit Glückskäfern drauf, wenn ich raten darf.
    Widerspruch per Pisa-Test
    Schön und gut. Aber da sind doch noch andere Probleme. Kinder Kind sein lassen, ja, Kinder voneinander lernen lassen – redet da jemand, der nicht weiß, was Kinder als Erstes machen, wenn die Erwachsenen aus dem Zimmer sind: nämlich ihre Ballerspiele hochfahren und das war’s dann für den Tag? Jemand, der diese modernen Honigtöpfe unterschätzt, die die Kinder früher eben nicht kannten, Xbox, Facebook, Youporn? Einer, der vielleicht auch die neuen Pisa-Ergebnisse noch nicht kennt? Kaum ist China das erste Mal mit dabei, und schon liegen die Kinder aus Shanghai an der Spitze! Bringen die chinesischen Kinder sich Mathematik vielleicht auf Bolzplätzen oder beim Spielen am Bächlein bei?
    Ich kenne die Pisa-Ergebnisse sehr wohl: Die chinesischen Kinder schreiben mehr Einsen als die deutschen. Und ich weiß gut, dass Kinder sich gegenseitig auch im Ballerspielen bestärken und weitertreiben. Ja, ich bin sogar Amy Chua dafür dankbar, dass sie es so radikal auf den Punkt bringt: Die mit der »chinesischen« Erziehung erzogenen Kinder (wenig Spielen, viel Drill) räumen die ersten Preise ab, während die »westlich« erzogenen Kinder (viel Spielen, wenig Drill) vor dem Bildschirm oder bei McDonald’s vergammeln. Die »chinesisch« erzogenen Kinder schaffen es auf die Bühnen der Konzertsäle, ihre »westlich« erzogenen Freunde dagegen schaffen es nicht viel weiter als zu den Verkaufsmeilen am Stadtrand. Also: Brauchen wir nicht – gerade
heute – mehr Einsatz der Eltern, mehr Lenkung, mehr Überwachung, mehr Aufsicht in den Kinderwelten? Also: Brauchen die Kinder mehr Freiheit – oder brauchen sie mehr Grenzen?
    Eine entscheidende Frage. Damit die Antwort nicht bei den üblichen Klischees hängenbleibt, müssen wir noch über ein weiteres Phänomen reden, nämlich das Immunsystem der kindlichen Entwicklung.

5
DAS IMMUNSYSTEM DER ENTWICKLUNG: WIE RESILIENZ ENTSTEHT
    Betrachten wir die kindliche Entwicklung einmal aus der Vogelschau. Sie ist im Grunde ein Balanceakt. Da sind auf der einen Seite die Belastungen, denen Kinder ausgesetzt sind – auch wenn wir sie ihnen gerne ersparen würden: Krankheiten, zerbrochene Freundschaften, Kränkungen, Trennungen, Niederlagen, Gewissensnöte, Ängste. Vielleicht auch ungünstige Ereignisse im Elternhaus wie Scheidung, Arbeitslosigkeit oder ein unpassender Erziehungsstil.
Jedes Kind bekommt es mit solchen Belastungen zu tun, das eine mehr, das andere weniger.
    Auf der anderen Seite aber stehen die Schutzfaktoren. Sie helfen den Kindern trotzdem klarzukommen, Kränkungen wegzustecken, Ängste und Nöte zu überwinden. Auch bei Gegenwind ihren Weg zu gehen. Sie sorgen dafür, dass auch Menschen, die in ihrer Kindheit großen Gefahren und Widrigkeiten ausgesetzt sind, lebenstüchtig und zufrieden werden können. Ganzen Generationen fehlte vieles von dem, was als wichtig für eine gute Entwicklung bekannt ist, und nicht wenige Menschen haben an dem Manko lebenslang gelitten. Andere aber sind mit dem Leben gut zurechtgekommen, trotz allem.
    Psychologen fassen die Schutzmechanismen, die uns »trotz allem« leben lassen, auch als Resilienz zusammen – als Krisenfestigkeit oder innere Stärke. Bei ihrem Versuch, dieses Immunsystem der Entwicklung besser zu verstehen, sind sie immer wieder auf die gleichen äußeren Einflüsse gestoßen, die die Abwehr stärken: Geschwister beispielsweise,

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