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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
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zwar um den Beitrag der Kinder.
    Tatsächlich ist unser landläufiges Bild von Entwicklung und Erziehung elternlastig. Die Psychologie beschreibt seit geraumer Zeit, wie die Eltern für ihr Kind die Kohlen aus dem Feuer holen (bzw. was passiert, wenn sie das nicht tun). Die bestimmenden psychologischen Theorien des letzten Jahrhunderts – die Psychoanalyse und die Bindungstheorie – drehen sich darum. Aber eine wirklich einschlägige Theorie der kindlichen Einflüsse auf die Entwicklung wurde erst in den letzten Jahren formuliert, vor allem von Judith Harris. Selbst in der Bibel hat die Mutter Maria eine recht starke Präsenz, und auch Joseph kommt immerhin ab und zu ins Bild. Aber ist da irgendwo von den Kindern die Rede, mit denen Jesus aufgewachsen ist? Denen er vielleicht Einiges seiner sozialen Kompetenz und inneren Stärke verdankt?
    Die Rolle der Eltern soll dabei keinesfalls geschmälert werden. Ein gutes Elternhaus ist wichtig. Und das gute Vorbild der Eltern zählt. Nur: Das ist nicht die ganze Geschichte. Sie ist vielschichtiger, wilder, quirliger. Und kindlicher.
    Die evolutionäre Sicht bringt die menschliche Familie zusammen. Ja, Eltern spielen eine wichtige Rolle. Und es ist auch bestimmt ein Plus, wenn Vater und Sohn zusammen Legoburgen bauen. Aber auch die besten Eltern können eine gute Kindergruppe nicht ersetzen.
    Aber was ist mit den negativen Einflüssen der anderen Kinder? Kinder sind nicht immer nett zueinander, und an den Sorgen der
Eltern ist schon etwas dran: Von anderen Kindern lernt man Schimpfwörter, von anderen Jugendlichen das Marihuana-Rauchen.
    Das stimmt, auch wir Eltern haben unsere unfeinen Wörter (die wir meist noch heute gerne benutzen) von anderen Kindern gelernt. Und tatsächlich finden Kinder ja nicht immer in funktionierenden Gruppen zusammen – Mobbing, Ausgrenzung, auch Gewalt unter Kindern sind keine Erfindungen besorgter Eltern, sie kommen vor. Auch unter Kindern gibt es Psychopathen – leider nicht weniger als unter Erwachsenen. Manche unserer Schrammen stammen vielleicht von anderen Kindern.
    Doch die Welt der Kinder den Erwachsenen zu überlassen ist keine Lösung. Denn wir haben von anderen Kindern auch unschätzbar wichtige Dinge gelernt. Dinge, ohne die wir so nie durchs Leben gekommen wären: Zähigkeit, Durchsetzungsvermögen, die Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen, ihre Absichten und Gefühle zu lesen, zusammenzuarbeiten, für unsere Interessen zu werben, auch einmal einstecken zu können, und vieles, vieles mehr.
    Lebenslanger Nachhall
    Kinderspiel ist keine kindische Beschäftigung. Wenn jetzt im Namen einer bildungspolitischen Treibhaus-Philosophie zum pädagogischen Großangriff auf die Kindheit geblasen wird, kommt das unsere Kinder teuer zu stehen. Ja, sie sind ungeschickter geworden, sie sind körperlich weniger leistungsfähig, und sie sind zappeliger geworden. Aber wen überrascht das? Im Kinderspiel erwerben Kinder den Schlüssel, um ihren Körper, ihren Geist und ihr soziales Ich zu gebrauchen. Im Kinderspiel wachsen Sinne, Seele und Körper zusammen.
    Es kann nicht sein, dass sich Erzieherinnen heute rechtfertigen müssen, wenn sie die Kleinen mal einfach ein paar Stunden »frei«
spielen lassen. Müsste sich nicht jeder Kindergarten rechtfertigen, der seinen Kindern eben das nicht bietet?
    Und müsste sich nicht auch rechtfertigen, wer Kindergruppen wie Schulklassen führen will und die Großen fein säuberlich von den Kleinen trennt? Soziale Fähigkeiten und Empathie sind heute, wo die Gesellschaft in Individuen zu zerfallen droht, wichtiger denn je. Aber soziale Kompetenz entwickelt sich nicht im Ethikunterricht und auch nicht durch das Vorlesen noch so vorbildlicher Kinderbuchgeschichten. Sie kann überhaupt nicht »vermittelt« werden. Soziale Kompetenz ist die Frucht einer Graswurzelbewegung. Sie kann dort wachsen, wo Kinder ihr Verhalten auf die Bedürfnisse der anderen beziehen müssen – in funktionierenden Familien und in funktionierenden Kindergruppen.
    Wir müssen noch einmal grundsätzlich über die Kindheit nachdenken. Ist sie wirklich nur eine Strecke, auf der sich Kinder für ihren Job warmlaufen? Warum ist sie so schnell von einem Projekt der Kinder zu einem Projekt der Erwachsenen geworden? Warum halten wir es so schlecht aus, wenn unsere Kinder in ihren eigenen Welten leben? Ist das wirklich nur die Angst vor möglichen Gefahren?
    Solche Gefahren müssen bedacht werden, natürlich. Das ist unsere Aufgabe als Eltern.

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