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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
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Leben.

    Schauen wir uns die Rolle des Spiels deshalb noch einmal genauer an: Was genau bedeutet spielen für die kindliche Entwicklung?

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SPIEL-DEFIZIT-SYNDROM: WARUM SPIELEN SO WICHTIG IST
    Inzwischen schlägt sogar der weltweit renommierteste Verband von Kinderärzten, die American Academy of Pediatrics, Alarm. Der Verband, der sonst eher über Leukämie und Keuchhusten informiert, fühlt sich veranlasst, zur »Rolle des kindlichen Spiels« Position zu beziehen – und wissenschaftlich zu begründen, warum ein Mangel an Spiel die kindliche Entwicklung in ihren Grundfesten bedroht.
    Ja, was haben Kinder eigentlich davon, dass sie spielen? Von anderen Tierarten wissen wir, dass sie als Junge spielen müssen , um
sich adäquat zu entwickeln. Hindert man Rattenjunge am Spielen, so bildet sich ihre Großhirnrinde nicht richtig aus und sie sind lebenslang in ihrem Sozialverhalten gestört. Bei Schimpansen ist das ähnlich, da geben gerade die kompetentesten Mütter ihren Kindern beim Spielen den weitesten Raum – und die an der langen Leine erzogenen Kleinen nehmen später den höchsten Rang ein.
    Vieles spricht dafür, dass das Spiel für den Menschen mit seinem komplexen Entwicklungsprogramm mindestens genauso wichtig ist: Keine Tierart gibt mehr Energie für das Spielen aus als der Mensch in seiner Kindheit. Selbst unter widrigsten Umständen, wie etwa in den Fabrikhallen der industriellen Revolution oder gar in den Konzentrationslagern der Nazis, fanden Kinder Anlässe zu spielen.
    Nur im Spiel erreichen Kinder ihr höchstes mögliches Leistungsniveau. In einem berühmten Experiment wurde Kindern gesagt, sie sollten so lange still stehen, wie sie nur könnten – im Schnitt schafften sie das gerade zwei Minuten lang. Wenn man ihnen aber sagte, sie seien jetzt Soldaten auf Wache, die strammstehen müssten, dann schafften sie es sieben Minuten! Kinder wachsen im Spiel im wahrsten Sinn des Wortes über sich selbst hinaus.
    Tatsächlich verortet die heutige Entwicklungspsychologie Spielen ganz an den Wurzelspitzen der kindlichen Entwicklung. Da lernen Kinder neue Wege gehen! Analysiert man das Kinderspiel genauer, so zeigt sich, wie viele unterschiedliche Strategien schon in einem einzigen Spiel, ja: durchgespielt werden. Kinder nutzen das Spiel also, um sich ein möglichst breites Spektrum an Denkmöglichkeiten zu erschließen. Und damit schaffen sie sich die Grundlage der wohl wichtigsten menschlichen Geisteskraft überhaupt: der Kreativität. Es gibt keinen Unterschied zwischen Spielen und Lernen!
    Dies gilt auch für den sozialen Kern des Kinderspiels. Kinder lernen beim selbstständigen Spielen ja auch in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen und sich damit selbst zu »erweitern«. Und sie lernen als Gruppe zusammenzuarbeiten, untereinander zu teilen,
zu verhandeln, Konflikte zu lösen und für sich selbst einzutreten – alles wichtige Grundlagen von sozialer Kompetenz und Widerstandskraft. Und alles Fertigkeiten, die einem Kind auch vom begnadetsten Pädagogen nicht »beigebracht« werden können.
    Was passiert, wenn dieser Entwicklungsmotor ausfällt? Einen Hinweis gibt die Statistik. Nach einer Meldung im Verbandsjournal der niedergelassenen Kinder – und Jugendärzte erhält in Deutschland fast jedes zweite Kind im Lauf seiner Schulzeit eine Therapie: Mehr als jedes vierte Kind zwischen sechs und 18 muss in die Logopädie, fast jedes fünfte in die Ergotherapie, und ebenso viele erhalten Krankengymnastik. Mindestens eines von zehn wird psychotherapeutisch betreut.
    Dabei sind gerade diejenigen Kinder in heilpädagogischer Behandlung, die nur selten mit Freunden spielen. Über 10% der Eltern therapieerfahrener Kinder gaben an, dass sich ihr Kind »überhaupt nicht« mit anderen Kindern trifft! Weitere 37% der Kinder spielten maximal eine Stunde täglich mit anderen Kindern.
    Wenn wir einen Beweis brauchen, dass die artgerechte Umwelt dringend unter Umweltschutz gestellt gehört, dann sind es diese Zahlen.
    Kinder brauchen Kinder
    Unser manierliches Bild von den Kindern, denen wir Erwachsene nur unser Wissen aufzutischen brauchen – je früher desto besser – , beruht auf einem Denkfehler. Aus Sicht der Evolution nämlich muss Lernen beim Menschen anders funktionieren als bei der Katze: Lernen ist kein Fluss von oben nach unten, sondern in hohem Maß eine Eigenleistung des Kindes.
    Denn Homo sapiens ist kein statisches Lebewesen. In seiner Natur liegt es, die Welt immer wieder neu zu denken, sein Leben
zu

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