Menschenkinder
meisten Grenzen, die Kinder erfahren, müssen gar nicht aktiv gesetzt werden, sie sind Teil des ganz normalen Aufwachsens. Das Kind will Verstecken spielen, das Geschwisterkind aber lieber ein Buch lesen – schon erfährt das Kind Grenzen für seinen Willen. Diese »natürlichen« Grenzen entstehen immer dort, wo Menschen sich aufeinander beziehen und ihr Leben teilen: Je mehr soziales Gewusele, desto mehr Grenzen. Und da macht im Grunde das ganze »Dorf« mit. Noch vor nicht allzu langer Zeit wusste die Frau Mayer an der Pommesbude, wo der blonde Tobias hingehört, der da mit seinen Kumpels auf halbstark machen will – und setzte vielleicht allein schon durch ihre Anwesenheit Grenzen.
Auch die Kinderwelten sind voller Grenzen. Nehmen wir etwa den Kindergarten. Da stoßen Mamis Lieblinge auf andere Lieblinge, da treffen viele kleine Prinzen und Prinzessinnen aufeinander – und finden im Spiel dann doch einen Weg, um die Rollen irgendwie zu besetzen: Prinzessinnen und Hofstaat, Zauberer und Bezauberte.
Und oft zeigen Kinder sich dabei nicht nur ihre Grenzen auf, sondern auch ihre Möglichkeiten: Sie sind füreinander also nicht
nur negative, sondern auch »positive« Grenzensetzer: »Du spielst jetzt Papa, und ich bin dein Kind« – »Und jetzt bin ich Papa, und du bist das Kind«. Diese Art der flexiblen Grenzziehung hilft Kindern im Verlauf des Kindergartenalters, allmählich aus ihren (für ihre Entwicklung übrigens wichtigen) Allmachtsfantasien 9 herauszuwachsen.
Gerade die Grenzziehung im »Dorf«, aber auch von Kind zu Kind hat im Vergleich zum evolutionären Kontext womöglich gelitten. Waren damals vor allem Geschwister und die älteren Kinder in der »wilden« altersgemischten Kindergruppe die Grenzzieher, so fällt diese Aufgabe heute stark den Eltern zu. Und die rutschen damit in eine recht unglückliche Doppelrolle – als Liebende und Begrenzende, Verteilende und Verweigernde, Verletzende und Tröstende, Heilige und Schurken in einer Person.
Also: Grenzen sind Teil des Lebens. Sind das die »guten« Grenzen? Und die von den Eltern gesetzten die schlechten? Manche glauben das – sie sehen das Grenzensetzen generell als Angriff auf die Menschenwürde an. Fakt ist aber, dass Kinder für ihre Entwicklung die Hilfe und den Schutz älterer, erfahrenerer Menschen brauchen und dass dabei auch Konflikte entstehen. Klar üben wir »Fremdbestimmung« aus, wenn die kleine Judith nur mit Mütze auf dem Kopf in die Kälte darf, aber das belastet eine funktionierende Beziehung nicht. Es ist eine sehr nette Illusion, unsere Beziehung zum Kind würde dadurch besser, dass wir ihm keine Grenzen zumuten.
Erste Hilfe
Dort, wo die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern gestört ist, wird es schwieriger. Da geht es bei den Grenzen nicht mehr um praktische Kompromisse, da geht es gleich um die Macht, um die Liebe, um alles . Solchen Familien, in denen sich alles um die Macht dreht, ist Hilfe dringend anzuraten – Elternkurse
etwa, auf denen das Setzen von Grenzen thematisiert und bewusst erlernt werden kann. Das kann dann für die entgleisten Beziehungen wie eine Art Erste Hilfe wirken. Kinder mit einem problematischen Sozialverhalten etwa fassen dadurch möglicherweise wieder Tritt.
Nur : Auch noch so gekonntes Setzen von Grenzen ersetzt nicht den Aufbau von Beziehung. Grenzen allein heilen nicht, durch Grenzen wachsen Kinder nicht, und auch die Eltern kommen dadurch nicht wirklich voran. Wenn Kinder ein problematisches Verhalten an den Tag legen, dann geht es ja nicht nur den Kindern nicht gut, sondern auch dem Beziehungsgefüge und der sozialen Welt um sie herum – das muss angegangen werden.
Das gilt auch für »verwöhnte« Kinder. Natürlich brauchen die mehr Grenzen. Aber das ist ja längst nicht alles. Verwöhnte Kinder sind in ihrer Entwicklung aus der Balance geraten, ihnen fehlt die sichernde Verankerung in der Gemeinschaft. Da ist mehr schiefgelaufen, als dass jemand vergessen hat, die Spielregeln zu erklären.
Kurz: Das Setzen von Grenzen kann Erziehung nicht ersetzen. Es kann kein Ersatz dafür sein, dass wir herausfinden, wo es im System hakt. Ja, der nölenden Vanessa im Zug fehlen womöglich Grenzen – und wir sollten sie einfordern, schon um unserer Nerven willen. Aber es bleibt Erste Hilfe.
Dass Grenzen dennoch als Erziehungskonzept glorifiziert und als pädagogische Allzweckwaffe verkauft werden – das allerdings ist einfältig.
Lob der Disziplin?
Wie kraft – und ideenlos die
Weitere Kostenlose Bücher