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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
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»Geschichte«. Sind die Menschen, die darin vorkommen, meine Freunde? Mitspieler? Oder Gegenspieler? Muss ich mich tagtäglich beweisen oder kann ich mich auch auf andere verlassen? Ist die Welt ein Ort, der mir etwas gibt, oder bedroht sie mich? Die Antworten darauf erwachsen zum einen aus frühen Bindungserfahrungen, schöpfen sich aber auch aus dem Alltag hier und jetzt. Und damit auch aus dem Zustand der Gesellschaft, in der ein Kind aufwächst. Kinder brauchen Frieden, Stabilität und Hoffnung. Und sie brauchen neben dem »Ich« ein schützendes »Wir«. Ein solches Gleichgewicht verleiht Flügel!

    Kinder, die unter solchen artgerechten Bedingungen aufwachsen, können sich entfalten. Sie können ihre Energie und Kraft voll und ganz für ihre Entwicklung nutzen. Diese ins normale Leben eingebaute »Förderung« kann geradezu als das Grundprinzip der Evolution verstanden werden: Kinder sind von Natur aus mit dem ausgestattet, was es braucht, um unter normalen Bedingungen »fit« zu werden, also sich zu kompetenten Erwachsenen zu entwickeln!
    Das erklärt, warum Kinder ihre Potenziale in extrem unterschiedlichen Umwelten entfalten. Solange sie die beschriebenen artgerechten Zutaten vorfinden, können sie ungehindert lernen – und sich damit all das aneignen, was es braucht, um vor Ort zu
bestehen. Tatsächlich fehlt es Kindern rund um die Erde nicht an Eloquenz – auch dort nicht, wo mit Babys nur wenig geredet wird. Und es gibt auch kein Intelligenzdefizit in Kulturen, in denen Kleinkinder keine Experimente im Kindergarten machen. Auch hierzulande gab es kluge Kinder schon zu Zeiten, als man mit Kindern noch so dumme Sachen machte, wie sie auf die Straße zum Spielen zu schicken.
    Das erklärt umgekehrt, warum der größte Teil der heute angebotenen, nein, regelrecht in die Kinder hineingedrückten Förderung für die Katz ist — sie soll Kindern bei Aufgaben helfen, die sie auch ohne spezielle Programme, Anreize oder Motivation von außen packen: das Sprechenlernen etwa, das Selbstständigwerden oder das Schlauwerden. Für diese universellen Facetten der kindlichen Entwicklung gilt das Gärtnerprinzip: Aus der Knospe wird keine tollere Blüte, wenn man ihr an den Blütenblättern rumfummelt.
    Und das erklärt auch, warum sozial benachteiligte Kinder von »Förderung« so ungeheuer viel profitieren – und das gerade in dem eigentlich ja als Selbstläufer angelegten Bereich der grundlegenden Kompetenzen wie sprechen oder denken. Tatsächlich: Dürfen Kinder aus sozial schwachen Familien etwa einen guten Kindergarten besuchen, so machen ihre sprachlichen Fähigkeiten auf einmal einen Sprung, und auch ihre kognitiven Leistungen verbessern sich. Das liegt nicht daran, dass ihnen dort besonders ausgeklügelte Förderprogramme geboten werden oder dass sie dort mit sonderpädagogischen Methoden behandelt werden. Nein. Die Kinder kommen deshalb voran, weil sie aus ihrem »beraubten« Umfeld in ein normales Entwicklungsumfeld aufsteigen dürfen! Sie kommen dadurch voran, dass ihr »eingebauter Entwicklungsmotor« jetzt anspringen kann. Einfach deshalb, weil sie jetzt das vorfinden, was es für eine gelungene Entwicklung eines jeden Kindes braucht: eine normale, artgerechte Umwelt.
    Spezielle Begabungen
    Ganz anders ist es bei den Dingen, für die spezielle Begabungen notwendig sind. Begabungen, mit deren Hilfe Kinder einmal Aufgaben werden bewältigen können, die sich eben nicht allen Kindern stellen. Die Geige zu beherrschen etwa. Die höhere Mathematik, das Balletttanzen. Oder das Gedichteschreiben. Um mit diesen besonderen Fähigkeiten Spitzenleistungen zu erzielen, brauchen Kinder besonderen Rückenwind. Muss der immer von außen auf sie geblasen werden? Nein. Anders als häufig angenommen, verschaffen sie sich den Rückenwind auch selbst.
    Ja, diese Eigenförderung spielt sogar oft eine entscheidendere Rolle als die Unterstützung von außen – viele Schriftsteller oder Dichter etwa haben nie besondere Förderungsprogramme oder besonders gute Schulen durchlaufen und sind auch nicht speziell zum »Üben« angehalten worden. Sie haben einfach das getan, was ihnen Befriedigung gab – hinter echten Spezialbegabungen stehen ja immer auch »Triebe«. Unter den Beatles war keiner, der von seinen Eltern zum Üben verdonnert oder in spezielle Musikförderungsprogramme gesteckt worden wäre. Überhaupt lesen sich überraschend viele Biographien herausragender Menschen wie eine Karikatur dessen, was wir unter

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