Menschenkinder
»Förderung« abgespeichert haben: Da finden sich keinerlei spezielle Programme, kein spezieller Einsatz der Eltern, keine speziellen Techniken.
Auch das wird oft vergessen: Viele Spezialbegabungen bilden sich nicht umso vollständiger oder perfekter aus, je früher sie aufgestachelt und geübt werden. Albert Einstein ist im Kindergarten nicht mit dem Rechenschieber dagesessen, und auch Singen können Kinder später nicht umso besser, je früher im Leben sie Gesangsunterricht bekommen. Die Beherrschung bestimmter Instrumente (vor allem der Geige) dagegen scheint durchaus besser zu klappen, wenn die Kleinen schon früh damit beginnen. Vielleicht sind also diese putzigen Wundergeiger-Kinder daran schuld, dass wir Genie immer mit möglichst früher Förderung verbinden ...
Zwei Wege
Fassen wir das zur Förderung Gesagte kurz zusammen. Es ist nicht ganz so simpel, wie es in den Ratgebern steht. Es gibt für Kinder zwei Arten von Entwicklungsaufgaben und damit zwei Arten von Förderung. Da ist auf der einen Seite die intuitive, »eingebaute« Förderung des Kindes. Mit diesem Reifungsprogramm erwirbt das Kind eine breite Palette an Lebenskompetenzen in allen möglichen Bereichen – in emotionaler, motorischer, sprachlicher und sozialer Hinsicht. Die intuitive Förderung ist also immer eine ganzheitliche Förderung.
Und dann gibt es die auf die Entwicklung von speziellen Begabungen gerichtete Förderung. Sie erlaubt Kindern, ihre besonderen Fähigkeiten auszubilden, ob kognitiver, musikalischer, emotional-kreativer oder sonstiger Art. Auch sie nutzt die inneren Triebkräfte des Kindes, also seine Eigenmotivation, seine Begeisterung und die unglaublichen, von innen kommenden Belohnungen. Aber je nach Art der Spezialbegabung spielt auch Üben, Selbstdisziplin und Unterstützung von außen eine Rolle. »Ohne Fleiß kein Preis« scheint über vielen dieser Blüten zu stehen.
Shanghai – Berlin
Wir haben diese beiden unterschiedlichen Arten von Förderung schon eine Weile durcheinandergebracht. Mit dem jetzt im »alten« Westen einsetzenden Kulturpessimismus hat sich das zugespitzt, und wir erleben den Ansturm eines völlig einseitigen, ja extremistischen Förderkonzepts. Dieser Angriff droht die Entwicklung unserer Kinder in eine fatale Richtung zu zwingen.
Da kann der Blick auf die Herkunft der Kinder helfen, Maß zu halten.
Denn das für eine soziale Art wie den Menschen typische Modell der Sozialisation war immer darauf gerichtet, dass Kinder in
die Gruppe, in die sozialen Zusammenhänge vor Ort hineinwachsen. Es war darauf gerichtet, dass aus Kindern sozial kompetente Erwachsene wurden. Das war ja der evolutionäre Imperativ schlechthin: Nur in einer funktionierenden Gruppe konnten Menschen bis in die allerjüngste Zeit hinein überhaupt überleben – die menschliche Gruppe war über Hunderttausende von Jahren »unsere einzige Hoffnung«, wie es die Evolutionsbiologin Hrdy ausdrückt. Zu 99% der menschlichen Geschichte konnten Güter nicht angehäuft werden, selbst ein erlegtes Wild war wertlos, wenn es nicht gemeinsam transportiert, verwertet und rasch verteilt wurde. Das »Kapital« der Menschen war nicht ihr Besitz, sondern ihr angesammeltes Ansehen, ihre wechselseitigen Verpflichtungen, ihr Beziehungsnetz.
Und genau darauf ist das angestammte »Fördermodell« des Kindes zugeschnitten: Die Erfahrungen in der Kindheit (einer Kindheit, die auch eine Kind -heit war und keine endlose Schulstunde, wohlgemerkt) vermittelten dem Kind schon immer eine breite Palette von Fertigkeiten: körperliche, sinnliche, kognitive, emotionale und vor allem soziale Fertigkeiten. Das heißt nicht, dass das Kind nicht auch seine individuellen Talente ausbilden konnte, ganz im Gegenteil – besonders gute Jäger, besonders gute Sammlerinnen, besonders gute Geschichtenerzähler waren ein Plus für alle. Aber diese Spezialisierungen standen nicht im Widerspruch zu einer im Kern auf das Leben in der Gemeinschaft ausgerichteten Sozialisation.
Dagegen formiert sich nun ein neues Konzept, das die individuellen Spezialisierungen ganz weit in den Vordergrund stellt – und zwar in kristalliner Reinkultur. Ziel ist jetzt der Erwerb eines extrem schmalen Ausschnitts an Fähigkeiten (meist kognitiver Art). Um dieses Ziel zu erreichen, wird die intuitiv-ganzheitliche Förderung, die aus evolutionärer Sicht immer Teil der Kindheit war, zur Disposition gestellt.
Invasive Förderung
Dieses invasive, individualistische Modell von Förderung
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