Menschenkinder
wird uns nicht guttun – den Kindern nicht und unserer Gesellschaft schon gar nicht. Es kann nicht sein, dass wir unter dem Druck einer gespenstischen Effizienzdebatte die kindliche Entwicklung auf einmal neu definieren wollen – und dabei einen Teil als richtig und wichtig, den anderen Teil zum überflüssigen Ballast erklären. Beide Aspekte sind Teil der kindlichen Natur, und das nicht ohne Grund. Sie haben uns Menschen beide gute Dienste geleistet auf unserem Weg. Wollen wir als menschliche Art eine Zukunft haben, so brauchen wir beide Teile, dringend.
Damit wären wir bei der »frühen Bildung«. Das, was unsere Bildungspolitiker derzeit daraus machen wollen, wird in einen Raubbau an der kindlichen Entwicklung münden. Die Philosophie ist simpel: Der frühe Beginn mit formaler Bildung führe zu einem höheren Leistungspotenzial im späteren Leben. Nur: Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass die Philosophie stimmt. Die Auswertung nationaler und internationaler Vorklassenprojekte an Kindergärten zeigt vielmehr, dass schulisches Arbeiten in Kindergärten den Kindern keinen Vorteil bringt, im Gegenteil. Das gilt auch für den frühen Beginn mit Fremdsprachen. Natürlich erfreut es Onkel und Tante, wenn der kleine Tim ein paar englische Wörter kann. Und sehr wohl stimmt auch die Beobachtung, dass Kinder bis zum Alter von etwa sechs bis zehn Jahren problemlos und akzentfrei eine Zweitsprache erlernen können. Das tun sie aber leider nur unter ganz bestimmten Bedingungen 10 – und die sind in den meisten Kindergärten nicht gegeben. Dass Kinder ihr intuitives Sprach-Lernprogramm nutzen können, um aus ein paar von der Erzieherin produzierten Brocken Englisch eine Sprache zusammenzusetzen, bleibt damit eine grundlose, aber interessanterweise weit verbreitete Hoffnung.
Und das gilt auch für die so gerne als »kindgerecht« angesehene naturwissenschaftliche Bildung, die einem Kindergartenkind beibringen soll, warum Seifenblasen nicht eckig sind, warum
der Mond nicht herunterfällt oder warum in der Limonade Bläschen von unten aufsteigen und nicht etwa von oben heruntersinken. Abgesehen davon, dass es auf diesem Planeten kein einziges Kindergartenkind gibt, das von sich aus über diese Fragen nachdenken würde, zeigen Befragungen, dass selbst Lehramtsstudenten mit den Antworten überfordert sind. So fragen die kleinen Wissenschaftler bei der anschließenden »Diskussion« dann halt doch wieder so unbedarfte Sachen wie: »Ich möchte wissen, was Räuber so alles klauen.«
Und warum ist uns denn die frühere Einschulung so wichtig? Die deutschen Iglu-Datensätze unterstützen dieses Ziel nicht: Die mit sieben Jahren eingeschulten Kinder sind im vierten Schuljahr im Schnitt deutlich besser als die ein Jahr früher eingeschulten Kinder. Kinder, so scheint es, lernen nicht einfach, was man ihnen vorsetzt. Sie lernen, wenn sie dafür bereit sind.
Was zählt, und: wer zahlt?
Bringen wir deshalb auch im Bereich der Förderung die Luftschlösser auf den Boden.
ERSTENS. Anstatt auf ein spekulatives Treibhausmodell von Förderung zu setzen, sollten wir endlich die unumstrittenen, gesicherten Erkenntnisse zur Förderung von Kindern umsetzen: Alle Kinder brauchen ein normales, arttypisches Entwicklungsumfeld. Viele Kinder, gerade solche aus armen Familien, haben dieses »normale« Umfeld nicht. Ihre Zahl nimmt zu, und das im reichsten (und kinderärmsten) Deutschland, das es je gab. Alle Kinder brauchen einen guten Kindergarten, alle Kinder brauchen eine gute Schule (und gerade Kinder, die zu Hause kein gutes soziales Netz haben, brauchen auch eine gute Krippe, davon wird noch die Rede sein). Reichhaltige Kinderwelten für alle Kinder, das ist der Kern von »Förderung« – und die allererste und wichtigste Hausaufgabe, die wir als Gesellschaft zu erledigen haben.
ZWEITENS. Verlangen wir, dass unsere Bildungspolitiker das Maß nicht verlieren. Sie können sich nicht nur von den Einsern der Kinder in Shanghai den Mund wässrig machen lassen, sie müssen Kosten und Nutzen bedenken. Wissen ist wichtig, gerade in einer Wissensgesellschaft. Aber auf dem Weg zum Wissen gibt es Sackgassen und Holzwege. Wem nutzt es denn, wenn die Kinder in immer weniger Jahren immer mehr Wissen anhäufen und danach reif für die Therapie sind? Welches Wissen brauchen wir denn? Und was genau ist denn der Wert von Wissen heute? Wissen funktioniert meist ja nur, wenn es in andere Fertigkeiten und Fähigkeiten »eingebettet« ist —
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