Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
Vom Netzwerk:
Deutschland etwa auf die Hauptschule geht, hat es auf dem Arbeitsmarkt einmal deutlich schwerer. Und selbst an den Gymnasien wimmelt es von Kindern, die den Stempel des »Schulversagers« tragen.

    Damit stellt sich doch die Frage: Haben unsere Kinder Schulprobleme – oder haben sie Problemschulen?
    Die allgemeine Schulpflicht wurde in Deutschland vor gerade einmal etwa 200 Jahren flächendeckend durchgesetzt. Da möchte man meinen, dass einer, der Kinder vor allem aus ihrer evolutionären Vergangenheit verstehen will, hier einmal die Klappe halten sollte. Ich will in diesem Kapitel zeigen, dass das Gegenteil stimmt: Wir müssen Kinder auch in ihrem schulischen Lernen von ihrer Entwicklung her betrachten. Lernen war ja schon immer der entscheidende Teil des menschlichen Programms, und auch Bildung ist ganz sicher keine neue Erfindung – auch die früher gerne als »Naturvölker« bezeichneten Stammesgesellschaften hatten und haben eine reiche Kultur und Bildung.
    Also: Wo legen wir den Kindern bei ihrem Lernen an der Schule Hindernisse in den Weg? Wie können wir die Ressourcen besser nutzen, die sie mitbringen?
    Welche Schule?
    Genau da scheiden sich die Geister. Das Wort »Kuschelpädagogik« hat die Runde gemacht. Michael Winterhoff wirft der Schule gar eine, wie er es nennt, »Bildung-für-Alle«-Mentalität vor und kritisiert, dass auch »schwächere Schüler« die Möglichkeit hätten, ihre Schulkarriere problemlos zu durchlaufen.
    Für andere steht die Schule unter dem Verdacht, sie hindere Kinder an ihrer freien Entfaltung oder lege sie auf das (böse) Lebensmodell des Mainstreams fest. Manche wollen die Schule sogar ganz abschaffen und den Unterricht in die (guten) Hände der Eltern legen.
    Die Schule ist zwischen die Fronten geraten – die einen wollen mehr Mathe, die anderen mehr Musik. Die einen Ethik, die anderen Eurythmie. Die einen mehr Brecht, die anderen eher Precht.
    Welcher Auftrag?
    Vielleicht hilft es da, einen Schritt zurückzutreten. Was ist denn der Auftrag der Schule, wenn man es ganz simpel betrachtet? Wem soll die Schule dienen?
    Den Kindern doch, oder? Die Schule soll ihnen helfen, im Leben zu bestehen, ihre Potenziale zu entdecken und zu entfalten. Kurz: Die Schule ist dazu da, dass sie Kindern bei ihrer Entwicklung hilft – und zwar allen Kindern, wohlgemerkt. Macht sie das?
    Die Antwort deutet auf ein Dilemma hin: Ja und Nein! Die Schule unterstützt – und versagt. Sie ist sehr gut – und sie ist ungenügend. Und das liegt nicht daran, dass sich die Lehrer zu wenig anstrengen, dass sie zu wenige Ideen bringen oder zu wenig rackern. Das Dilemma liegt am Konzept der Schule. Und an der Gesellschaft, die sich schneller ändert, als ein Kultusministerium Lehrpläne drucken kann.
    Veränderte Welt
    Ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland stammen aus Einwandererfamilien, für viele von ihnen ist die Unterrichtssprache eine Fremdsprache. Die Familie hat an Stabilität verloren, immer mehr Kinder wachsen in alleinerziehenden Haushalten oder Stieffamilien auf. Angst vor sozialem Abstieg ist selbst unter Besserverdienern verbreitet – und sie ist berechtigt: Während in den 1960er-Jahren unter zwei Prozent der deutschen Kinder in sozial prekären Verhältnissen lebten, sind es heute mindestens sechsmal so viele. Die Randbereiche der Gesellschaft dehnen sich aus. Die soziale Frage ist eben nicht Geschichte, sondern starrt uns mitten in der Überflussgesellschaft geradewegs ins Gesicht. Besonders Lehrer an Haupt – und Berufsschulen kennen die dazu gehörenden Lebensgeschichten: Kinder und Jugendliche geplagt von Unsicherheit, Selbstwertproblemen, Bindungsstörungen,
Suchtproblemen – die langen Schatten eines immer größer werdenden Kinder-Prekariats.
    Aber das ist nur die eine Seite der Veränderungen. Auch die Sozialisation in der Mitte hat sich gewandelt. Früher waren es vor allem die Familien, die nachbarschaftlichen Zusammenhänge und die Kindergruppen, die der nachwachsenden Generation Brücken ins Leben schlugen. Diese Instanzen haben im Zuge der Globalisierung deutlich an Kraft eingebüßt. Dadurch sind Kindergarten und Schule für die Vermittlung von Selbst – und Lebenskompetenzen umso wichtiger geworden. Wo lernen Kinder heute kochen? Wo lernen sie, ein Fahrrad zu reparieren? Einen Knopf anzunähen? Wo untereinander Interessen auszugleichen? Wo miteinander als Gruppe über sich hinauszuwachsen? Immer öfter heißt die Antwort: Sie lernen es nicht – es sei

Weitere Kostenlose Bücher