Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
innerhalb von Tagen total verfallen war. Sie ihm allerdings auch. Einer geregelten Beziehung stand eigentlich nur seine Ehefrau im Weg, doch diese Klippe umschiffte der wohlhabende, rasend verliebte Mittfünfziger auf elegantem Weg, indem er seiner neuen Geliebten eines seiner vielen Apartments einrichten und sie dort einziehen ließ. Sie bekam ein kleines Auto, eine Kreditkarte mit ansehnlichem Limit, und fortan stand er, sooft es seine Geschäfte und seine Ehe zuließen, bei ihr auf der Matte. Das hätte nach ihrer Einschätzung noch eine Weile so weiterlaufen können, doch unglücklicherweise überschlugen sich im Sommer 2009 die Ereignisse in einer solchen Art und Weise, dass Watane noch Monate später der Situation völlig hilflos gegenüberstand.
An einem Abend im Juli hatte er sich bei ihr gemeldet und ihr erklärt, dass er für ein paar Tage nach Asien fliegen müsse. Der nächste Anruf war aus Singapur gekommen, und diesmal klang er ganz anders, als sie es gewöhnt war, nämlich gehetzt, aufgekratzt und sehr aggressiv.
Zwei Tage später rief er erneut aus Kassel an, entschuldigte sich mit blumigen Worten für sein Verhalten am Telefon im Gespräch zuvor und teilte ihr glaubhaft mit, dass er seine Frau verlassen und sein weiteres Leben mit ihr planen würde.
Das war das Letzte, was sie von ihm hörte, weil er am folgenden Wochenende von irgendwelchen dubiosen Geschäftspartnern erschossen wurde.
Auto weg, Kreditkarte weg, Wohnung weg, Leben weg; so fasste sie einer Freundin gegenüber ihre Situation im Sommer 2009 verkürzt zusammen. Nachdem sie das Apartment fluchtartig verlassen und den Wagen auf irgendeinem Parkplatz vor der Stadt deponiert hatte, war Watane zumindest froh darüber gewesen, nicht in den spektakulären und über Wochen die Medien bestimmenden Fall hineingezogen zu werden, weil niemand, absolut niemand etwas von ihrem Verhältnis mit dem Toten gewusst hatte.
Kurz darauf begann sie in der kleinen Wäscherei eines Japaners als Hilfskraft und nahm sich ernsthaft vor, niemals in ihrem Leben mehr etwas mit einem Mann anzufangen, was natürlich nicht klappen konnte. Denn während der Geburtstagsfeier eines Arbeitskollegen lernte sie im Herbst des gleichen Jahres Shinji Obo kennen, die Küchenhilfe, und zog keine zwei Monate später bei ihm ein.
Da, das war der Mann! Sie betrachtete mit großen Augen das Foto aus dem Archiv der Lokalzeitung vom Neujahrsempfang des letzten Jahres und wunderte sich darüber, dass er es tatsächlich bis in die höchsten gesellschaftlichen Kreise Kassels geschafft hatte. Obwohl, wenn sie sich den Import-Export-Geschäftsmann mit seinem verschlagenen Gesichtsausdruck ansah und im gleichen Moment das Konterfei des Oberbürgermeisters der Stadt, dem er auf dem Bild die Hand schüttelte, betrachtete, waren die Unterschiede nun wirklich nicht sehr groß. Beide hielten ein feistes Haifischgrinsen in die Kameralinse und beiden war anzusehen, dass sie sich für überlegen und unantastbar hielten.
Daijiro Tondo war der Name des Mannes neben dem OB.
Innerhalb der japanischen Community sprach man ihn nur leise und sehr bedacht aus, denn angeblich waren Geschichten über ihn im Umlauf, die darauf schließen ließen, dass er seine Finger in vielen und keineswegs immer legalen Geschäften stecken hatte. Watane kannte keine dieser Geschichten, doch sie wusste, dass er als die Nummer eins unter den Japanern in Nordhessen galt. Er hatte viel Geld, befehligte ein großes Unternehmen, und sein Einfluss, das war ihr spätestens seit dem Bild, das noch immer vor ihr auf dem alten, klobigen Monitor vor sich hin flimmerte, war dieser Community längst entwachsen.
Mit vor Aufregung zitternden Fingern bewegte sie die Maus auf der nackten Tischplatte hin und her und hatte kurz darauf die Internetseite von Nipimex aufgerufen, der Firma Tondos. Dort navigierte Watane sich auf der Suche nach offenen Stellen durch die Verzeichnisse, doch ein solches Angebot gab es nicht. Offenbar war es auch hier so wie bei den meisten japanischen Unternehmen dieser Größe in Deutschland, dass zu besetzende Jobs innerhalb der Familienclans hin- und hergeschoben wurden, oder man bediente sich einfach unter denjenigen Japanern, die ohnehin als vagabundierende Arbeiter und Arbeiterinnen ständig durch Europa zogen. Stattdessen bekam sie bunte Bilder von fröhlich dreinblickenden, Europäern vermutlich sehr exotisch anmutenden Menschen, zu sehen, die gut gelaunt und voller Tatendrang ihrer täglichen
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