Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
den besten Schulen Japans ausgebildet wurde. Und insgeheim hatte er natürlich darauf gehofft, sie eines Tages vor einem großen Publikum auftreten zu sehen, als Pianistin, doch daraus war zu seinem großen Leidwesen nichts geworden. Seiner Vermutung nach lag es am frühen Tod ihrer Mutter, seiner Frau, dass der Werdegang von Watane so gar nicht in die klassischen Muster einer guten und gehorsamen japanischen Tochter aus bestem Haus passen wollte. Mit 16 Jahren, kurz nach der bestandenen Aufnahmeprüfung an das Konservatorium von Osaka, hatte sie sich Hals über Kopf in einen englischen Rockmusiker verliebt, der für ein paar Konzerte nach Japan gekommen war, und sich ihm und seiner Band angeschlossen. Allerdings war der Begriff Rockmusiker nicht zu verwechseln mit Rockstar, denn ein solcher war Tony Watts in seinem Leben nie gewesen. Zwei Wochen später landete die inzwischen 17 Jahre alt gewordene Watane in seiner Begleitung in London und betrat damit zum ersten Mal europäischen Boden; ein Teenager mit wunderschönem, exotischem Äußeren, vielen verrückten Ideen im Kopf und nicht mehr als ein paar lumpigen englischen Pfund in der Tasche.
Es hatte keinen Monat gedauert, dann war sie von einem neuen Groupie in Tonys Bett ersetzt worden. Noch jünger, noch zierlicher. Ein paar Jahre später wanderte er übrigens in den Knast, wegen sexueller Handlungen an Minderjährigen.
Das zumindest konnte Watane Origawa an jenem verregneten Oktobermorgen im Bahnhof von Manchester nicht wissen. Was sie hingegen wusste, war, dass sie über gerade einmal 61 englische Pfund in bar verfügte. Und sie wusste weiterhin, dass ihre Misere mit einem einzigen Anruf aus der Welt zu schaffen gewesen wäre, doch das war für den trotzigen, stolzen japanischen Teenager keine Option. Also hatte sie sich aufgemacht ins Kneipenviertel der Stadt und schon am Nachmittag in einem Pub als Bedienung angefangen.
Über London, Montreux, Köln und Paris war sie ein paar Jahre später in Frankfurt gelandet, und immer waren es Männergeschichten gewesen, die für den manchmal abrupten Wechsel ihres jeweiligen Aufenthaltsortes verantwortlich waren. Da gab es zum Beispiel Jacques, der ihr vorgegaukelt hatte, der Erbe eines großen Familienunternehmens am Genfer See zu sein, und der sich bei näherem Betrachten als ein kleiner Dealer mit einem Riesenhaufen Schulden entpuppt hatte, der sie auf den Strich schicken wollte. Oder Robin, der im Gegensatz dazu unzweifelhaft aus besten rheinischen Verhältnissen stammte, sie jedoch mindestens zweimal die Woche im Suff verprügelte. Irgendwann zur Jahreswende 2006/2007 hatte Watane die Nase von Europa und den Männern und vermutlich auch ihrem ganzen bisherigen Leben so gestrichen voll gehabt, dass sie zurück nach Japan wollte, doch wie so oft zuvor, kam auch diesmal etwas dazwischen. In diesem Fall war es eine kleine, unscheinbare Anzeige in einem Kunstmagazin, in der Hostessen für die im Mai 2007 beginnende Documenta, der weltgrößten Ausstellung zeitgenössischer Kunst, gesucht wurden. Speziell japanische Muttersprachlerinnen waren nachgefragt worden.
So kam es, dass die mittlerweile fließend Deutsch, Englisch und Französisch sprechende junge Frau ein paar Wochen später nach Kassel eingeladen wurde und einen weiteren Monat nach der erfolgreichen Bewerbung ihren Job als Documenta-Hostess in der nordhessischen Metropole antrat. Obwohl sie von Kassel bis dahin nicht einmal den Namen gekannt hatte, war sie innerhalb kürzester Zeit geradezu begeistert von der Stadt und dem Umland. Manches von dem, was sie dort zu sehen bekam, entsprach vielem, was es in japanischen Reiseprospekten über Europa zu sehen gab, wie etwa die Fachwerkhäuser.
Sie verbrachte einen wunderbaren Sommer, den sie auch deshalb so unbeschwert in Erinnerung behalten sollte, weil sie sich nicht in einen der vielen, durchaus auch attraktiven männlichen Documentabesucher verliebte, von denen sie sowohl harmlose Komplimente als auch unverhohlene, eindeutige Angebote zu hören bekommen hatte.
Nach Ende der Ausstellung waren ihre Ersparnisse derart angewachsen, dass sie zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Europa das folgende halbe Jahr ohne Geldsorgen angehen konnte. Doch wie so häufig in ihrem Leben, war wieder einmal alles anders gekommen, als sie es erwartet hatte, und wie so häufig lag es an einem Mann.
Diesmal handelte es sich um einen wesentlich älteren Immobilienspekulanten, den sie in einem Café kennengelernt hatte und der ihr
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