Menschenskinder
hinüber, dann tuckerte unseres als erstes los. Und noch immer war kein Meer zu sehen! Wir befanden uns jetzt auf einem Fluss, an dessen linkem Ufer lauter Holzhütten standen, die meisten davon auf Stelzen. Anfangs glaubte ich, es handele sich um Fischerhütten, denn bei manchen ankerte ein kleines Boot, doch dann sah ich spielende Kinder, beflaggte Wäscheleinen, hier und da eine angebundene Ziege … es waren tatsächlich Wohnhäuser für ganze Familien, natürlich ohne Strom und Wasser, wenn man von dem absieht, was vor der Tür vorbeifloss.
»Wie kann man bloß so leben müssen?«, sagte Steffi leise.
»Wir motzen schon, wenn bei uns mal zwei Stunden lang der Strom ausfällt und wir keinen Kaffee kochen können oder die Waschmaschine stehen bleibt.«
In einer Holzhütte hatte ich zwar nie gehaust, doch ein Leben ohne Strom und Wasser war mir durchaus noch in Erinnerung. Allerdings hatte dieser Ausnahmezustand nur relativ kurze Zeit gedauert, zumal wir ja immer die Gewissheit gehabt hatten, dass über kurz oder lang wieder Wasser aus der Leitung kommen und statt der ewig blakenden Hindenburglichter Glühbirnen die Stullen mit künstlichem Brotaufstrich bescheinen würden. Ist zwar schon über fünfzig Jahre her, doch vergessen habe ich die letzten Kriegstage und die unmittelbare Nachkriegszeit bis heute nicht.
Steffi war schweigsam geworden. Hatte sie anfangs noch diese aus der Entfernung recht malerisch anmutende Ansammlung von Hütten fotografiert, so hatte sie schon längst die Kamera zur Seite gelegt. Es ist eben doch ein Unterschied, ob man Armut auf dem Bildschirm sieht oder direkt vor Augen hat.
Und dann endlich das Meer! Ganz plötzlich waren die Flussufer zur Seite gerückt und schließlich ganz verschwunden. Eine silbrig glänzende Fläche lag vor uns, und doch sah sie anders aus als die Meere, an deren Ufern ich schon gestanden hatte. Dort hatte es nur eine unendliche Weite gegeben bis zum Horizont, hier dagegen gab es Inseln, meist nur kleine unbewohnte, doch sie unterbrachen immer wieder den ungehinderten Blick in die Ferne. Wir haben auch nie den berühmten Augenblick erlebt, wenn »die Sonne ins Meer fällt«; sie versank vielmehr ganz profan hinter den Hügeln der benachbarten unbewohnten Insel; so ähnlich wie zu Hause, da verschwindet sie immer hinterm Dach von der Biergartenkneipe.
Schon eine Stunde lang schipperten wir unter dem gleichmäßigen Tuckern des Motors übers Wasser, als plötzlich Leben in die vor sich hindösende Besatzung kam. »Now you can see the island!«, sagte jemand und deutete in die Ferne, wo die neunte Insel auftauchte, denn an acht waren wir schon vorbeigefahren. Sie unterschied sich von den anderen überhaupt nicht, war offenbar fast rund, grün und musste irgendwo Klippen haben, denn sogar von hier aus sah man an einer Stelle das Wasser schäumen. Erst beim Näherkommen wurde der breite Strand erkennbar und mitten auf diesem eine Art Wachtturm, daneben ein riesengroßer Scheinwerfer. Sehr suspekt, fand ich. Nichts gegen Wachttürme, wenn Rettungsschwimmer von da oben »die da unten« im Auge behalten, doch dieses Inselchen war klein, hatte also nur Platz für eine bescheidene Anzahl von Touristen, und alle Urlauber würden bestimmt nicht gleichzeitig ins Wasser … und schon gar nicht bei Dunkelheit! Weshalb also der Scheinwerfer? Wegen der Boote, wurde ich aufgeklärt, damit sie die Einfahrt finden, es kämen ja auch nachts welche, brächten Vorräte oder Leute vom Staff zurück, Angestellte also, die einen freien Tag gehabt hatten …
Alles klar, gab’s auf den Malediven auch, nur ist dort die Einfahrt durch das jede Insel umschließende Korallenriff immer schon im Wasser durch Leuchtbojen gekennzeichnet und niemals durch einen Scheinwerfer auf dem Strand. Egal, vielleicht war man hier noch ein bisschen rückständig, macht ja nichts, kann sogar ganz romantisch sein. Trotzdem nahm ich mir vor, bei der ersten Gelegenheit zu prüfen, ob der Scheinwerfer mit Strom oder nicht doch vielleicht mit einem Dutzend Stearinkerzen beleuchtet wird.
Dann knirschte es auch schon leicht unterm Kiel, wir wurden aufgefordert, unsere Schuhe auszuziehen, denn es sei gerade Flut, und nun müssten wir ein paar Schritte durchs Wasser waten. Einen Anlegesteg gab’s nämlich nicht, weil unnötig; alle Boote haben wenig oder vielleicht auch gar keinen Tiefgang, wen interessiert’s, das Meer ist warm, und wer lange Hosen trägt, ist selber schuld.
Regel Nr. 1: Wenn du von oben ins
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