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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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beeilte Sævar Kreutz sich zu sagen. Das Lächeln ließ seine dünnen Lippen fast verschwinden, und zum Vorschein kamen kleine, weiße Zähne. »Kommt mit.«
    Kiddi Kolke und Pálmi schauten einander an, ohne zu begreifen, worauf Sævar Kreutz hinauswollte. Ersetzen? Wie wollte er ihnen den Verlust ersetzen? Sie folgten ihm widerstrebend. Sie gingen einen langen Flur entlang, der ein wenig abschüssig war, bis sie zu einem weiteren Raum kamen. Dieser Raum war klein, kaum mehr als zwölf Quadratmeter, und in ihm befanden sich vier Stühle. Als sie sich gesetzt hatten, drückte Sævar Kreutz auf einen Knopf an der Wand, und die Vorhänge vor ihnen öffneten sich.
    »Keine Angst«, erklärte Sævar Kreutz. »Sie können euch nicht durch die Scheibe sehen.«
    Ein riesiger, weiß getünchter Raum kam zum Vorschein. Er war etwa hundert Quadratmeter groß, und darin befanden sich eine weiße Ledergarnitur, ein Sofa und zwei Sessel und dazwischen ein weißer Tisch. Fußboden und Wände waren ebenfalls in Weiß gehalten, nur an einer Wand sah man die dunkleren Konturen eines Rahmens, der eine weiße Tür umgab. Starkes Neonlicht erhellte den Raum. Auf dem einen Sessel saß ein hochbetagter, würdiger Greis, der asiatischer Herkunft war und die festlichen Gewänder seiner Heimat trug. Augenscheinlich wartete er auf etwas. Er schaute sich um, und seine Blicke schienen auf Sævar Kreutz, Kiddi Kolke und Pálmi zu fallen, aber er sah sie nicht, denn die Scheibe war verspiegelt. Der Mann wartete geduldig.
    »Jetzt passt ganz genau auf«, sagte Sævar Kreutz, der direkt vor der Scheibe saß. »Das hier müsste hochinteressant für euch sein.«
    In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, ein nackter Junge trat in das weiße Zimmer ein und ging auf den Greis zu. Der Junge war fast so weiß wie die Wände des Raums, er schien zwölf oder dreizehn Jahre alt zu sein. Ihm fehlten sämtliche Pigmente. Er war ein Albino.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Pálmi.
    »Was sind das für verdammte Monstrositäten, die du uns hier zeigst?«, fragte Kiddi Kolke und wollte sich gerade zu Sævar Kreutz umdrehen, als sein Blick an dem Jungen haften blieb.
    »Ja, schau nur genauer hin«, sagte Sævar Kreutz, der Kiddi Kolke beobachtete. Zum ersten Mal seitdem sie ihn getroffen hatten, spiegelte sein Gesicht eine Gefühlsregung wider, eine gewisse Spannung und Triumph. »Schau dir den Jungen genau an«, sagte er.
    »Was ist denn los, Kiddi?«, fragte Pálmi, der sah, dass Kiddi leichenblass geworden war. Er starrte auf den Jungen auf der anderen Seite der Scheibe, der jetzt vor dem Asiaten stand. Der Greis betastete den Jungen von Kopf bis Fuß. Er drehte ihn um und begutachtete den Rücken, den Po und die Zehen. Pálmi fühlte sich an eine gründliche ärztliche Untersuchung erinnert. Er blickte abwechselnd auf Kiddi, der wie hypnotisiert den Kopf schüttelte, als würde er sich weigern, seinen Augen zu trauen.
    »Was ist das hier eigentlich für eine Fleischbeschau?«, sagte Pálmi angewidert.
    »Das kann nicht sein«, stöhnte Kiddi Kolke schließlich. »Das kann einfach nicht sein, das kann nicht sein. Das kannst du einem nicht antun, du Dreckskerl«, wiederholte Kiddi Kolke ständig und starrte auf den Jungen. Auf einmal glaubte Pálmi, eine Träne in seinem Auge zu erblicken.
    »Was ist denn los, Kiddi?«, wiederholte Pálmi seine Frage ruhig.
    »Weißt du, wer das ist, Pálmi, der Junge da bei diesem schlitzäugigen Typen? Weißt du, was für ein Junge das ist? Weißt du, wer das ist?«
    »Ich habe ihn noch nie gesehen«, erwiderte Pálmi und starrte angestrengt auf den leichenblassen Jungen in den Händen des Greises.
    »Doch, du hast ihn schon einmal gesehen, du kannst dich nur nicht an ihn erinnern«, sagte Kiddi Kolke mit zittriger Stimme. »Er war mit deinem Bruder Danni befreundet. Das ist Aggi. Das ist Aggi, genau wie er war, kurz vor seinem Tod.«
    »Niemand braucht mehr zu sterben«, flüsterte Sævar Kreutz.

Fünfundvierzig
    Erlendur und Sigurður Óli steckten zwischen Kópavogur und Miklubraut im Stau. Sie waren auf dem Weg nach Kjalarnes, um Sævar Kreutz in die Zange zu nehmen und zu fragen, was vor mehr als drei Jahrzehnten in der Víðigerði-Schule vorgefallen war. Es ging auch darum, herauszubekommen, was eigentlich in diesem Gebäude auf Kjalarnes vor sich ging. Der Tag war damit draufgegangen, an die Baupläne heranzukommen, die bei der Hamburger Polizei eingescannt und als Attachment nach Island geschickt wurden. In

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