Menschensoehne
Agnars Mutter Hoffnung schöpfte, die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes zu erfahren. Erlendur fehlte es noch an einschlägigen Informationen, und er wollte keine falschen Hoffnungen wecken.
»Wieso interessiert ihr euch nach all diesen Jahren eigentlich für Aggi?«, fragte sie und blickte vom einen zum anderen.
»Wahrscheinlich hast du keine Nachrichten gehört«, entgegnete Erlendur. »Halldór Svavarsson wurde vor ein paar Tagen ermordet, und das scheint auf irgendeine Weise mit der Klasse, in der dein Sohn war, zusammenzuhängen. Ich muss dich aber dringend bitten, das für dich zu behalten und niemandem davon zu erzählen. Das ist äußerst wichtig.
»So was habe ich ja noch nie gehört«, sagte Stefanía erstaunt.
»Weißt du etwas darüber, wie es den anderen Klassenkameraden von Agnar ergangen ist, was aus ihnen geworden ist und wo sie heute leben?«, fragte Sigurður Óli.
»Wir haben alle in dieser städtischen Sozialbausiedlung am Grenivegur gewohnt, und man kannte sich ziemlich gut, die Jungs waren ja jeden Tag zusammen. Unser Lebenswandel war vielleicht nicht gerade vorbildlich, kaputte Familien, so wie bei mir, und soweit ich weiß, sind die Jungs alle vor die Hunde gegangen. Nachdem Aggi tot war, fingen sie mit dem Alkohol an, und dann kamen die Drogen. Soweit ich weiß, ist aus keinem von denen was geworden. Ich kann mich erinnern, dass Óskars Mutter Þóra mich einige Jahre später mal besucht hat, als ihr Sohn an einer Überdosis Rauschgift gestorben war. Und solche Geschichten hat man immer wieder über sie gehört. Danni hat versucht, seine Wohnung mitsamt seinem Bruder anzuzünden, und wurde danach in die Anstalt eingewiesen. Außer diesen einen Winter, als aus den Versagern die beste Klasse der Schule wurde, haben sie es immer schwer gehabt. So ist das, wenn man uns wie Schafe in solche Silos einpfercht und von anderen Leuten fern hält. Sogar in der Schule wurden unsere Kinder unterschiedlich behandelt. Daraus kann nichts Gutes entstehen.«
»Vielen Dank Stefanía, du bist uns ein große Hilfe gewesen«, sagte Erlendur und stand auf. Sigurður Óli erhob sich ebenfalls, und sie verabschiedeten sich von der alten Frau, die auf ihrem Bett saß und das Foto betrachtete.
»Wer ist das da mit deinem Sohn auf dem Foto?«
»Das war einer von Aggis Freunden aus dieser Klasse. Die beiden hingen unglaublich aneinander. Sie haben tagaus, tagein zusammen gespielt, im Winter wie im Sommer. Das Foto habe ich selber gemacht, ich besaß damals eine kleine Kamera. Das war nur ein paar Wochen, bevor er starb. So ein netter Junge, er wurde schwer verletzt, als diese Bande über die Jungs und meinen Aggi hergefallen ist. Ich glaube, er wurde Siddi oder Diddi oder so ähnlich genannt.«
Wieder hielt sie Erlendur das Foto hin, und als er genauer hinschaute, sah er, dass der Junge an Agnars Seite nur noch ein Auge hatte. Die Augenhöhle war leer, und Erlendur schien es, als hielte er eine schwarze Augenklappe in der einen Hand.
»Könnte es Kiddi sein?«, fragte Erlendur. »Der, den sie Kiddi Kolke genannt haben?«
»Der war’s. Kiddi Kolke, so wurde er immer genannt. Das Auge hat er verloren, als sie über meinen Aggi hergefallen sind.«
Dreiundzwanzig
Der Fotograf baute seine Gerätschaften auf. Einer der Klassenräume war für die Klassenfotos zur Verfügung gestellt worden, die Kamera stand auf einem Stativ am einen Ende des Raums, und am anderen Ende waren Bänke platziert worden. Die Kamera war ein großes, vorsintflutliches Gerät, und die Kinder hatten ihren Spaß daran, wenn der Fotograf den Kopf unter ein schwarzes Tuch steckte und alle dazu aufforderte, Cheese zu sagen. Tschiiiiiiis, enorme Blitze erhellten sekundenlang den Klassenraum und zuckten in die winterliche Finsternis hinaus.
Der Fotograf hatte Pálmi erklärt, dass er den ganzen Tag in der Schule zu tun hatte. Er machte immer noch regelmäßig Klassenfotos, so etwas brachte Geld in die Kasse, zusätzlich zu den klassischen Studioaufnahmen anlässlich von Taufe, Konfirmation, Abitur und Hochzeit. Es sei am besten, wenn Pálmi einfach in die Haga-Schule käme.
Pálmi beobachtete den Mann bei der Arbeit. Eine Klasse nach der anderen stellte sich vor der Kamera auf, und der Fotograf verwendete altbekannte Tricks, um die Kinder zum Lachen zu bringen. Wie es von einem Mann, der seit über dreißig Jahren Klassenfotos machte, nicht anders zu erwarten war, arbeitete er rasch und zielstrebig. Während einer Pause ging Pálmi zu ihm hin,
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