Menschensoehne
Fernsehsender übersetzte.
Sólveig wohnte in einem Reihenhaus in Fossvogur. Sie erklärte, mit einer Frau zusammenzuleben, und hoffte, dass ihn das nicht schockierte. Er fand, dass ihn das überhaupt nichts anginge. Sólveig hatte von sich aus damit angefangen, nachdem sie in ihrem Wohnzimmer Platz genommen hatten. »Meine Freundin heißt Hulda«, sagte sie. »Findest du diesen Namen nicht genauso erdgebunden wie patriotisch? Das passt genau zu ihr, sie ist nämlich auch beides.« Sólveig war eine große und schlanke Mittvierzigerin mit glattem blondem Haar. Augen und Nase waren groß, und sie hatte einen entschlossenen Gesichtsausdruck, der erkennen ließ, dass sie keine Krämerseelen oder müßiges Geschwätz ertrug. Sie war eine Frau, die ohne Umschweife zur Sache kam und nicht um die Dinge herumredete.
»Ich kann mich gut an dich als Kind erinnern. Danni hat dich überall in einer kleinen Sportkarre herumgezogen. Du warst damals noch sehr klein, bestimmt nicht älter als zwei Jahre, deswegen kannst du dich bestimmt nicht daran erinnern.«
»Ich erinnere mich kaum an Daníels Freunde, das stimmt.« »Ich kann dir nicht viel über deinen Bruder Daníel erzählen«, erklärte sie und schaute Pálmi in die Augen. »Er gehörte zu den Schlechtesten in der Klasse. Die Jungs waren unglaubliche Rabauken. Ständig haben sie sich auf dem Schulhof geprügelt, und einige haben sogar geklaut und Leute überfallen, aber ich glaube, dass Daníel nicht zu denen gehörte. Wahrscheinlich eher Kristján und Agnar und Óskar, der wurde Skari Skandal genannt. Kannst du dich an diese Jungen erinnern?«
»Eigentlich nicht. Aber ich kenne die Geschichte von Kiddi Kolke und seinem Auge.«
»Und dann unser Lehrer Halldór. Die Leute erzählen sich, dass seine Schüler ihn ermordet haben − was für ein absurder Quatsch. In meiner Erinnerung war das ein ausgesprochen farbloser Mann. Er hat nie die Stimme erhoben, wenn er unterrichtete, sondern er sprach ganz leise und in einem so verschwörerischen Ton, als wäre er einer von uns und wir wären dick miteinander befreundet. Er hat nie gebrüllt, auch wenn es Anlass dazu gab. Er hat sich irgendwie nie aufgeregt. Er hat auch nie den Lehrerstock verwendet, um auf uns einzuschlagen oder auf das Pult zu hauen wie viele andere Lehrer. Das hatte er nicht nötig. Er redete zu uns, als wären wir auf einer Ebene. Sein Lieblingssatz war: Lauscht der Stille. Das hat er wer weiß wie oft gesagt. Lauscht der Stille, und wir haben wie die Idioten gelauscht und nichts gehört. Möchtest du einen Kaffee?«
»Nein, danke«, sagte Pálmi. »Ich war auch auf dieser Schule, und da wurde immer noch sehr viel Wert auf Disziplin gelegt. Und ich kann mich an den alten Rektor erinnern, das war ein richtiger Stier.«
»Ja, er hatte einen ziemlich üblen Ruf in der Lehrerzunft und war berüchtigt dafür, die Kinder zu schikanieren, besonders, wenn sie sich eine Blöße gaben. Und dann dieses unerträgliche Siezen. Er war ganz bestimmt der Schulrektor im ganzen Land, der als Letztes damit aufgehört hat. Was für ein aufgeblasener Fatzke.«
»Bei ihm herrschte aber immerhin Disziplin.«
»Ja, in jener Zeit wurde unglaublich viel Wert auf Disziplin gelegt. Ich weiß nicht so genau, wie es heute ist, aber man hat eigentlich den Eindruck, als hätten die Schulen völlig die Kontrolle über die Schüler verloren. Früher mussten sich alle in Reih und Glied aufstellen. Endlose gerade Reihen und Grabesstille. Die Reihen mussten so lange stillstehen, bis keiner mehr redete. Es spielte überhaupt keine Rolle, wie das Wetter war, wir durften nicht hinein, bis alle in Reih und Glied standen. Selbst bei den schlimmsten Winterstürmen durften wir uns nicht von der Stelle rühren, bevor der Lehrer das Zeichen dazu gab. So was wäre heutzutage völlig undenkbar. Und auch im Klassenzimmer mussten wir uns aufstellen und im Gänsemarsch hinausgehen, den Gang entlang bis vor die Tür zum Klassenzimmer. Erst auf dem Schulhof haben wir gewagt, uns frei zu bewegen. Wie oft mussten wir draußen warten, weil die Jungs noch wie die Wilden herumtobten. Halldór stand immer im Anzug dabei, wartete geduldig und sagte uns, wir sollten auf die Stille lauschen. Erst, als es den Jungs zu langweilig wurde, durften wir hinein.«
Sie saßen eine Weile schweigend und in Gedanken versunken da.
»Ich kann mich erinnern, dass ich es immer Klasse fand, wenn wir in der großen Pause unsere Schulbrote aßen. Dann setzte sich Halldór ans Pult
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