Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
und las uns Abenteuergeschichten vor, während wir unsere mitgebrachten Stullen auspackten. In leeren Ketchupflaschen hatten wir die Milch, oder manchmal sogar Kakao. Halldór schaffte drei Bücher in einem Schuljahr. Kapitän Grant und seine Kinder, Gullivers Reisen, Prinz Eisenherz. Er las ziemlich monoton und sprach ein wenig durch die Nase, aber wir saßen alle da und hörten uns diese Geschichten an. Er hat sich vielleicht nicht gerade in diese Geschichten hineingelebt, aber das taten wir. Und anschließend bekamen wir die Lebertranpillen.«
    »Wurden sie am Ende der Brotzeit ausgeteilt?«
    »Dann legte Halldór das Buch in die Schublade zurück, holte ein großes Glas mit den kleinen, gelben Lebertranpillen aus der Schublade und verteilte sie. Er ging von Pult zu Pult. Wir bekamen sie in die Hand, aber den Jungs befahl er, den Mund aufzumachen, damit er ihnen selbst die Kapseln verabreichen konnte, und er hat ihre Lippen mit den Fingerspitzen berührt. Dabei bekam er so einen ganz komischen Gesichtsausdruck, wenn er das machte. Wir Mädchen haben uns darüber unterhalten. Bei uns hat er das nie gemacht.«

Vierundzwanzig
    Sigmar wurde am späten Nachmittag aufs Neue in den Verhörraum geführt, und Erlendur und Sigurður Óli nahmen ihm gegenüber Platz. Eine ganze Zeit lang hatte es den Anschein, als würde kein Wort aus ihm herauszubringen sein, aber zum Schluss schien er doch das Bedürfnis zu haben, über seine Klasse und seine Jugend zu sprechen. Er wirkte sehr viel ruhiger als am Morgen. Er erzählte davon, wie der, den sie immer Kiddi Kolke genannt hatten, das Auge verloren hatte, von seinem Stadtviertel und von seinen Freunden und von den alten Zeiten, die er so vermisste, von der Zeit, bevor alles so grauenvoll wurde.
    »Das war in dem Winter, als uns dieses Gift eingetrichtert wurde. Danni und die anderen Jungs kamen, um mich abzuholen, der kleine Pálmi war auch mit dabei. Danni passte nachmittags immer auf ihn auf und nahm ihn in seiner kleinen Karre überallhin mit. Kiddi Kolke war dabei und unsere Freunde Aggi und Skari Skandal. Und Gísli. Aggi hatte unheimlich vorstehende Zähne und sah echt komisch aus, aber er war auch sonst ein lustiger Typ. Skari war einer seiner besten Freunde. Niemand wusste, woher er diesen Spitznamen hatte. Er kam vom Land. Ich gehörte auch zu der Clique, und meistens haben wir uns in unserem Viertel herumgetrieben, aber immer mit der Absicht, danach in den Keller zu gehen. Das war nämlich unser Geheimversteck. Es war der Keller unter dem Gemeindehaus. Manchmal klauten wir was in den Läden, und einmal haben Kiddi Kolke und Skari einer alten Frau im Hlíðar-Viertel die Tasche weggerissen, das hat gerade mal zwei Hundertkronenscheine eingebracht. Wir waren eben Stümper und Versager auf der ganzen Linie und haben alles getan, um diese Erwartungen zu erfüllen.
    Der Keller war noch im Rohbau und aus dem Stahlbeton der Wände standen die Eisenstangen hervor. Der Boden war uneben, und da unten war es eigentlich kalt und ungemütlich, aber uns war das scheißegal. Wir fühlten uns dort jedenfalls sauwohl. Wir sammelten Kerzenstummel, die ein bisschen Helligkeit und Wärme ausstrahlten. Pálmi steckte in einem Lammfellsack und wurde an die Wand gelehnt, und wir haben uns hingehockt und gequasselt. Wir waren Freunde.«
    Sigmar machte eine Pause.
    »Heutzutage ist in dem Viertel, verglichen mit früher, überhaupt nichts mehr los«, fuhr er dann fort. »Manchmal geh ich hin und seh mich um, aber da spielt jetzt kein einziges Kind mehr auf der Straße. Früher waren da unheimlich viele Leute, Dutzende von Kindern, die aber in der Erinnerung vielleicht manchmal zu Hunderten werden.«
    Sigmar erzählte ihnen von ihren Spielen und ihren blutigen Kämpfen, die bis in die Nacht hinein dauerten.
    »Zwischen den unterschiedlichen Stadtvierteln herrschte regelrecht Krieg, und in unserer Straße waren wir angeblich die wildesten und frechsten Lümmel, vor denen die Kinder aus den anderen Straßen Angst hatten. Die haben es nach besten Kräften vermieden, uns zu reizen. Es gab regelrechte Schlachten um die Vorrangstellung auf Spielplätzen und Fußballplätzen oder auf den Schlittenbahnen. Alle Mittel waren erlaubt, und oft wurde mit gefährlichen Waffen gekämpft, die wir uns aus dem Zeug zusammenbastelten, das wir in den Neubaugebieten fanden. Pfeil und Bogen machten wir uns irgendwie aus dem Plastik für die Stromkabel, und wir bekamen auch ganz ordentliche Schwerter, Schilde und

Weitere Kostenlose Bücher