Menschensoehne
Altersheim brachte man sie zum Zimmer von Agnars Mutter. Sie wohnte in einem Dreibettzimmer, war aber allein, als sie eintraten und sich vorstellten. Sie baten darum, sie mit ein paar Fragen über ihren Sohn Agnar belästigen zu dürfen. Die Frau hieß Stefanía und sah sehr viel älter aus als siebzig. Sie machte den Eindruck, als sei sie bereits eine ganze Weile alt. Sie hatte nur einige wenige persönliche Gegenstände bei sich. Erlendur bemerkte ein Foto auf ihrem Nachttisch, auf dem zwei Jungen zu sehen waren. Fröhliche Jungen, die sich für das Foto den Arm um die Schultern gelegt hatten und lachend in die Kamera schauten. Stefanía reichte ihnen das Bild.
»Links seht ihr meinen guten Aggi, der andere war sein Freund. Der arme Junge. Er war gerade erst dreizehn geworden, als er starb, vor vielen, vielen Jahren, an einem schönen Sommertag. Sie hatten Fußball gespielt, und Aggi brach vor den Augen der anderen zusammen. Er war auf der Stelle tot. Die Ärzte nannten es Herzversagen, aber ich habe nie begriffen, wie das Herz eines dreizehnjährigen Jungen versagen kann. Ich habe es einfach nicht verstanden.«
»Wurde dieser plötzliche Tod deines Sohns nicht weiter untersucht?«, fragte Erlendur und reichte ihr das Bild zurück, nachdem er es flüchtig angeschaut hatte.
»Doch, es kam zu einer Obduktion. Das war entsetzlich, aber ich habe immer nur dieselbe Antwort bekommen. Er hat einen Herzanfall erlitten.«
»Aber bevor das geschah«, warf Sigurður Óli ein, »hat er sich vorher jemals über Schmerzen oder dergleichen beklagt?« »Ich war vielleicht damals nicht die allerbeste Mutter, die man sich denken konnte«, sagte sie und zerknüllte ihr Taschentuch. »Ich war allein erziehende Mutter, hab von morgens früh bis abends spät geschuftet, und dann waren da noch die Männer und der Alkohol. Damit hab ich nach Aggis Tod aufgehört. Ganz und gar. Er hat mich wahrscheinlich vor dem Verderben bewahrt, der gute Junge. Ich habe ihn erst sehr spät bekommen, eigentlich war es ein Unfall, und er war so ein hübsches Kind.«
»Du hast also in den letzten Tagen, Wochen oder vielleicht sogar Monaten nichts Ungewöhnliches in seinem Verhalten bemerkt?«, fragte Erlendur.
»Er kam mir manchmal ein bisschen schwächlich vor, und er hat sich so oft erbrechen müssen. Das habe ich auch den Ärzten gesagt. Und er hatte immer eiskalte Hände und Füße, daran kann ich mich erinnern. Ich musste ihn ständig daran erinnern, sich Handschuhe und Mütze anzuziehen und Wollsocken, aber natürlich hat er nie auf mich gehört. Sonst war er ein ausgesprochen fröhlicher Junge, einer, der ständig Unsinn machte. Er war hyperaktiv und musste immer alles, was ihm in den Sinn kam, auf der Stelle ausführen. Wirklich erstaunlich war aber, dass seine Klasse, die die schlimmste in der ganzen Schule war, in diesem Schuljahr mit einem Mal zur besten Klasse wurde. Niemand konnte begreifen, wie die aufsässigsten und schlechtesten Schüler in einem Winter zu richtigen kleinen Intelligenzbestien werden konnten.«
»Kannst du dich an Agnars Lehrer erinnern, an Halldór Svavarsson?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein, das kann ich wirklich nicht behaupten. Er hat diese Klasse einige Jahre unterrichtet, und ich habe ihn vermutlich ein paar Mal getroffen, aber daran kann ich mich nicht so genau erinnern. Ich glaube, dass er ganz nett war. Mein Aggi hat sich jedenfalls nie über ihn beklagt. Habt ihr vielleicht Zigaretten dabei, Jungs? Ich habe solche Lust auf eine Fluppe, aber so was gibt’s hier natürlich nicht zu kaufen, und wegen der Beine schaffe ich es einfach nicht mehr zum Kiosk, und sowieso wird einem hier ja alles abgenommen.«
»Bitte«, sagte Erlendur und reichte ihr eine zerknitterte Packung. »Kannst du dich an irgendetwas Ungewöhnliches oder Besonderes in dieser Zeit erinnern, was Aggi und seine Freunde betrifft?«
»Aggi wurde einmal angegriffen und brutal getreten«, sagte Stefanía und schaute zu Boden. »Er hatte ohnehin etwas vorstehende Zähne, schon bevor er in diese Schlägerei verwickelt worden ist. Er bekam einen Tritt ins Gesicht, sodass der eine Schneidezahn ausfiel und der andere noch mehr vorstand.«
»Hat Agnar jemals über die Lebertrankapseln gesprochen, die den Kindern damals in der Schule verabreicht wurden?«, fragte Erlendur.
»Nicht, dass ich wüsste. Haben sie Lebertrankapseln bekommen?«
Erlendur wollte nicht näher darauf eingehen. Falls Sigmar die Wahrheit gesagt hatte, konnte es sein, dass
Weitere Kostenlose Bücher