Menschensoehne
Kein Wort wurde gesprochen.
Fünfundzwanzig
»Wir sind in den städtischen Sozialwohnungen groß geworden«, sagte Sólveig. Pálmi und sie saßen im Wohnzimmer. »Unsere Klasse hielt eng zusammen. Alle wohnten ganz nah beieinander und waren von klein auf befreundet. Unsere Eltern kamen meist vom Land. Sie hatten keine Ausbildung und mussten für einen miesen Lohn arbeiten. Mit solchen Leuten füllten sich diese kleinen Sozialwohnungen. Viele waren gerade erst in die Stadt gezogen und hatten irgendwelche Gelder erhalten, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Bei einigen herrschten fast asoziale Verhältnisse – wenn ich es recht bedenke, sogar bei den meisten Jungen in unserer Klasse. Bei Danni aber nicht.« »Unsere Mutter war allein stehend«, sagte Pálmi, »und sie war sehr arm. Sie hat sich immer abrackern müssen, aber irgendwie hat sie uns durchgebracht. Nach dem Tod unseres Vaters gab es keinen anderen Mann mehr für sie. Ich kann mich erinnern, dass der Schulleiter ihr immer wieder mit dem Jugendamt gedroht hat, wahrscheinlich, um ihr einen Schreck einzujagen. Er hat wohl geglaubt, er könnte meinen Bruder gefügiger machen, wenn er sie unter Druck setzte. Wenn Daníel zum Rektor musste, weil er die Mülltonnen in der Schule angezündet oder auf den Korridoren Randale gemacht hatte, knöpfte der sich immer wieder unsere Mutter vor. Manchmal ließ er sie sogar von der Arbeit holen, um ihr richtig die Hölle heiß zu machen. Sie hat mir später erzählt, dass sie zeitweilig wirklich Angst hatte, uns zu verlieren. Einmal tobte Daníel gerade durch die Korridore, als der Rektor um die Ecke bog. Sie stießen zusammen, der Rektor fiel hin und verlor beinahe das Bewusstsein. Daníel wurde eine Woche lang vom Unterricht ausgeschlossen und wäre fast von der Schule geflogen. Mama musste den Mann händeringend bitten, sich nicht ans Jugendamt zu wenden. Er hat sie in dem Gespräch fortwährend gesiezt und ihr gesagt, dass Daníel einer der schwierigsten Jungen der ganzen Schule sei. Mama hat später oft in Erinnerung daran gelacht, wie er vor ihr saß, sich mit seiner Siezerei wichtig machte und dabei dieses riesige violette Ei auf seiner Stirn prangte.«
Sólveig schien sich das sofort bildlich vorstellen zu können, denn sie lachte laut auf.
»Es war mit Sicherheit eine sehr schwierige Klasse«, sagte sie. »Die Familienverhältnisse der Schüler waren unterschiedlich, aber den meisten ging es ziemlich schlecht, glaube ich. Häufig waren es die Mütter, die das Geld verdienten, die Kerle haben sich meist verdrückt. Der Alkohol floss in Strömen, und die Kinder kamen deshalb auch leicht an Schnaps heran. Tagsüber liefen wir herum, ohne dass sich jemand um uns kümmerte, zu Hause waren wir eigentlich nur nachts. Dieses System mit den Sonderklassen war wie auf uns zugeschnitten. Dass wir etwas lernten, war vollkommen nebensächlich, denn es ging nur darum, dass wir die schulische Karriere der anderen nicht behinderten. Halldór versuchte, uns bei der Stange zu halten, ihm war aber klar, dass nicht viel von ihm erwartet wurde. Bei uns zu Hause wurde über Schule und Wissen nur gelacht. Ich war eigentlich keine schlechte Schülerin, aber ich kam aus diesen Asi-Silos, und das alleine reichte aus. Damit war ich abgestempelt. Wir fühlten uns aufs Abstellgleis geschoben. Damals gab es keine Psychologen, Soziologen oder Vertrauenslehrer. Diese Sonderklassen mit den schlechtesten Schülern kosteten viel weniger. Das Schlimme daran war aber der Umstand, dass bei der Entscheidung, wer in diese Sonderklassen kam, die Begabung eine viel geringere Rolle spielte als die Herkunft, davon bin ich überzeugt. Es hieß immer, dass es keine Klassengesellschaft in Island gäbe, aber in diesem System kam sie voll und ganz zum Tragen.«
»Kannst du dich an irgendwas Besonderes im Zusammenhang damit erinnern, dass euch Lebertranpillen verabreicht wurden?«, fragte Pálmi. »Sigmar hat der Polizei eine äußerst merkwürdige Geschichte erzählt. Angeblich sollen den Jungen in deiner Klasse heimlich Drogen verabreicht worden sein. Angeblich war in den Lebertrankapseln etwas, das die Jungen süchtig machte. Und das hätte später dazu geführt, dass sie Alkohol und Rauschgift zum Opfer fielen und teilweise völlig durchgedreht sind, wie mein Bruder Daníel. Tatsache ist, dass Halldór Daníel in der Klinik besucht hat, kurz bevor sie beide ums Leben kamen, und jemand vom Personal hat gehört, wie sie über Lebertranpillen geredet haben.
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