Menschensoehne
dir nach Hause gefahren, um rauszukriegen, ob du vielleicht noch mehr davon hättest. In den Wochen nach der Schulentlassung fühlten wir uns richtig elend, so, als hätten wir permanent die Grippe. Beim Pinkeln tat es weh, wir hatten Kopfschmerzen und Muskelzucken, uns war andauernd übel, und wir konnten schlecht schlafen. Wir versuchten, an Schnaps ranzukommen, und wir haben sogar die Medikamentenschränke zu Hause geplündert, aber eigentlich wollten wir nur diese Lebertranpillen. Du warst aber nicht zu Hause, und wir konnten nicht warten. Nichts wie rein ins Haus, sagte Aggi, lass uns die Pillen suchen. Wir hatten deine Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen. Wir waren zu fünft und haben den Bus genommen. Die anderen drei Jungs aus der Klasse waren im Sommer immer bei Verwandten auf dem Land. Die Tür war abgeschlossen, und als wir um das Haus herumgegangen sind, entdeckten wir hinten auf der Rückseite ein kleines Fenster, das offen stand. Nur wir zwei haben uns hineingezwängt, die anderen standen Wache. Wir waren die Kleinsten. Aggi stellte sich auf meine Schultern und kroch durch das Fenster hinein und zog mich dann hoch. Drinnen war ein richtiger Saustall. Wir haben uns die Klassenfotos angeschaut, die da aufgereiht an den Wänden hingen. ›Wir müssen aufpassen, dass wir nichts kaputtmachen‹, sagte ich. Bei dir da drinnen war wirklich ein scheußlicher Geruch. Was war das eigentlich für ein Gestank? Wir mussten uns die Nasen zuhalten. Es roch nach Katzenpisse.
HALLDÓR: Ich habe nie auf Sauberkeit Wert gelegt.
DANÍEL: Wir haben versucht, keine Spuren zu hinterlassen. Nichts durfte verrückt werden. Wir haben bloß mit den Augen gesucht. Wir haben im ganzen Haus nachgesehen, fanden aber nichts, was wie Pillengläser aussah. Dann haben wir Kartons angehoben und in Schubladen herumgekramt, aber vergeblich. Uns war klar, wie wütend du sein würdest, wenn du rausfändest, dass wir bei dir eingebrochen waren. Als wir in dein Schlafzimmer kamen, hatte ich ein ganz seltsames Gefühl. Das war total absurd. Wir kannten dich ja überhaupt nicht. Du hattest uns zwar die ganzen Jahre unterrichtet, aber wir wussten nichts über dich. Du hast uns nie etwas über dich selbst erzählt. Und jetzt standen wir, zwei Einbrecher, bei dir drinnen und sahen Dinge, von denen es uns schwer fiel, sie mit dir in Verbindung zu bringen. Widerlicher Gestank, Dreck, Pornozeitschriften, Schnapsflaschen dutzendweise und die Küche voller Essensreste. Ich kam mir vor, als wäre ich in einer Drachenhöhle gelandet. Ich wollte raus. Aggi hat dann endlich die Pillengläser gefunden. Er war bei dir unters Bett gekrochen und kam mit zwei vollen Gläsern wieder zum Vorschein. HALLDÓR: Und in dem Moment kam ich nach Hause, und du hast in der Falle gesessen.
DANÍEL: Skari Skandal kreischte durch den Briefkastenschlitz, dass du im Anmarsch seist. Wir sausten zum Küchenfenster. Aggi kroch als Erster raus, aber sein Gürtel blieb an einem Haken hängen, und er hat eine Ewigkeit gebraucht, bis er den loskriegte. Als ich auf den Küchentisch kletterte, hörte ich den Schlüssel im Schloss und stand wie angewurzelt da. Ich wusste nicht, ob ich versuchen sollte, Aggi hinterherzuklettern oder schnell runterzusteigen, um mich zu verstecken.
HALLDÓR: Das war an einem Freitag, und ich hatte mir gerade meine Wochenendration besorgt.
DANÍEL: Ich bin ganz schnell unter dein Bett gekrochen und hab die ganze Zeit gehofft, dass meine Freunde sich was einfallen lassen würden, um mir zu Hilfe zu kommen. Aber je mehr Zeit verstrich, desto geringer wurde die Chance, dass von ihnen Hilfe zu erwarten sei. Meine einzige Möglichkeit bestand darin, mich im richtigen Augenblick hinauszuschleichen. Ich lag da und lauschte. Du hast irgendwas in der Küche gemacht, dem Geruch nach zu urteilen, hast du Hafergrütze gekocht, und dabei hast du vor dich hin gesummt. Ich fürchtete mich eigentlich nicht direkt vor dir, ich hatte nur Angst, einen Mann zu stören, von dem ich spürte, dass er in Ruhe gelassen werden wollte und der nie jemanden an sich heranließ. Ich fürchtete mich am meisten vor deiner Reaktion, wenn du herausfinden würdest, dass wir in deine Welt eingebrochen waren. Wir haben deine Einsamkeit immer irgendwie respektiert.
Schweigen .
DANÍEL: Dann kamen keine Geräusche mehr aus der Küche. Vielleicht bist du in dein Arbeitszimmer gegangen. Dann hörte ich diese Musik, so eine schreckliche klassische Musik, wie sie damals den ganzen Tag im Radio
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