Menschenteufel
Tiefkühltruhe. Sofort fielen Freund an ihrer Oberkante dunkle
Fingertapper und Spritzer auf, die nicht in dieses sonst sehr gepflegte Haus
passten. Gegen seinen Willen stieg in Freund Panik hoch. Leise öffnete er den Deckel
und leuchtete hinein. Die weißen Innenwände waren rot bespritzt und
verschmiert. Auf ihrem Grund überzogen feine Eiskristalle eine hügelige
Miniaturlandschaft wie im Herbst der Reif die vertrockneten Wiesen. Unter den
glitzernden Wesen konnte er Erhebungen, Senken, Furchen ausmachen.
Augen.
Ein pelziger Kopf glotzte ihn an. Eine runde Schnauze, längliche
Ohren. Dazwischen zwei seltsame Scheiben, wie abgeschnittene Bäume. Die
Reiflandschaft bestand aus noch mehr Fell. Dazu streckten sich zwei dürre Beine
grotesk verrenkt durch den Innenraum des kalten Schranks. Ein Reh. Jagte
Köstner auf seine alten Tage noch?
Einen Herzschlag später begriff Freund seinen Irrtum. Vor ihm lag
kein Wildstück. In einer Ecke lugten unter dem Pelz des Geißbocks haarlose Körperformen
hervor.
Auf den zweiten Blick erkannte Freund, dass sie nicht zu einem Tier
gehörten.
In seinen Ohren hörte Freund nur das Rauschen des Blutes.
Gleich darauf erfasste ihn jene Kaltblütigkeit, die er aus
Extremsituationen gewohnt war und die ihn wie eine Maschine funktionieren ließ.
Er betrachtete sich selbst dabei, wie er den Deckel schloss. Mit einer
Berührung des Arms gab er Petzold zu verstehen, ihm aus dem Raum zu folgen.
Hinter ihnen zog die Inspektorin die Tür zu. Freund leuchtete kurz die Wände
dieses Raums ab. Gerümpel, alte Koffer, leere Flaschen, uralte Haushaltsgeräte.
Sie schlichen weiter in den ersten Raum am Fuß der Kellertreppe, eigentlich nur
eine leere, kleine Kammer. Aus der Hosentasche holte Freunds Hand sein
Mobiltelefon und drückte auf den erstbesten Knopf, um das Display zu
beleuchten.
»Kein Empfang hier unten«, hörte er eine Stimme flüstern, die seine
war. »Gehen Sie hinauf und rufen Sie die Soko an. Reden Sie mit Wagner,
Obratschnik oder noch besser Lukas Spazier oder Marietta Varic. Sie müssen
kommen. Volle Mannschaft. Vorsichtig. Kein Tatütata, kein Blaulicht. Da unten
ist noch wer. Ich schaue hin. Beeilen Sie sich.«
Mit einem Schubs expedierte er sie die Treppen hinauf. Ohne sich
umzusehen, lief sie hoch, fünf Stufen auf einmal nehmend. Einen Lidschlag lang
war er überrascht, dass sie ohne Widerspruch gehorchte.
Dann atmete er tief durch.
Sein Blick fixierte die Tür. Er hatte Angst vor dem, was ihn ein
paar Räume weiter erwartete. Durch seinen Kopf schossen die Bilder der Opfer.
Da drüben lagen ihre fehlenden Teile. Tiefgefroren. Beim Blick durch das
vorderste Schlüsselloch hatte er nicht viel mehr gesehen als einen düsteren
Gang, an dessen Ende eine Tür mit Milchglasscheibe zu warten schien. Vor allem
aber meinte er etwas gehört zu haben. Er hatte es nicht bestimmen können.
Vielleicht eine Katze. Oder eine Ratte. Der Gedanke daran ließ ihn schaudern,
heftiger als der Truheninhalt. Er war sich der Unverhältnismäßigkeit bewusst.
Deshalb hatte er George Orwells 1984 nie zu Ende gelesen. Für ihn war bei der
Szene Schluss, in der Winston Smith die Rattenkäfige vor das Gesicht montiert
bekam.
Leise kehrte Freund zurück in den nächsten Raum mit der
Tiefkühltruhe. Außer den Flaschen in den Regalen fand er nichts, was sich als
Waffe verwenden ließ. Lautlos zog er die nächstbeste Bouteille hervor. Von dem
Tiefkühler schien eine böse Energie auszugehen. Das Wissen um seinen Inhalt
schrumpfte Freunds Magen zu einer Rosine und ließ seinen Kehlkopf zur Melone
anschwellen.
Lautlos ließ sich auch die nächste Tür öffnen. Den folgenden Raum
dominierte ein Öltank an der rechten Seite, der nur einen eineinhalb Meter
breiten Durchgang zu der Tür mit Milchglasscheibe gegenüber freiließ, durch die
mattes Licht drang, das seinen Weg ausreichend beleuchtete. Hinter sich schloss
er nicht ab, um im Notfall schnell nach oben laufen zu können.
Da war es wieder, das Geräusch. Ein ersticktes Keuchen, Wimmern,
kaum hörbar. Freund hielt die Luft an. Er sollte auf die anderen warten. Doch
dort hinten war jemand in Gefahr. Vielleicht in tödlicher.
Der Estrich unter seinen Füßen schien zu brennen. Seine
Kaltblütigkeit war verflogen. Er steckte wieder in seinem Körper. Hinter seinen
Ohren und am Hals kitzelten Schweißrinnsale. Schwer lag die Flasche in seiner
Hand. Bei jedem Schritt musste sein Wille einen inneren Sumoringer überwinden,
der sich ihm
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