Menschenteufel
Schreie
seines Vorgesetzten, das Feuer einzustellen. Sein Sprung in Deckung hinter ein
umgestürztes Motorrad auf der Straße. Ein paar Jahre später hatten Mitglieder
einer Autoschieberbande auf ihn geschossen, als Freund und seine damaligen
Kollegen sie festnehmen wollten. Doch diese Situationen waren nichts gewesen im
Vergleich zu der Hilflosigkeit, mit der er heute Nacht diesen Schlächtern
ausgeliefert gewesen war. Was waren das für Menschen? Hatte so jemand diese
Bezeichnung überhaupt noch verdient?
Eigenartigerweise stellte er sich diese Fragen nicht in Bezug auf
den eigentlichen Täter. Warum? Nicht, weil er ihn für weniger grausam hielt.
Freund betrachtete ihn schlicht als krank. Wer Verbrechen beging, wie sie an
Wuster, Hermine Rother und dem dritten Mann verübt worden waren, musste in
seiner Seele schwer beschädigt sein. Selbst wenn Doktor Blilorek ihn für völlig
zurechnungsfähig hielt.
Vielleicht war er das. Schließlich unterstellte Freund ja auch
seinen Angreifern kühle Berechnung und keine Geisteskrankheit. Dieses Kalkül
hatte sie weit gebracht. Wie es aussah, ganz nah an den Killer. Peilsender.
Vielleicht hatten sie ihn schon. Was wollten sie von ihm?
Die rätselhaften Verfolger besaßen geheime Informationen der
Polizei. Freund brütete darüber, wer der Verräter sein konnte. Oder war ihr
Computersystem gehackt worden? Er begann zu ahnen, dass hinter der Sache viel
mehr stecken könnte als ein einzelner Wahnsinniger. Ein System? Eine
Organisation? Gegen welchen Gegner traten sie an?
Bald würde Blilorek ihm ein posttraumatisches Belastungssyndrom
attestieren. Die Verantwortlichen dafür wollte er fassen. Zur Strecke bringen,
hätte er fast gedacht. Dachte er.
Aber da war noch sein Vater. Wer sollte ihn betreuen?
Laurenz Freund schaltete seine Schreibtischlampe ein. Zum Glück lag
da noch Frau Ivenhoffs Zettel mit der Telefonnummer der Feilers. Zögernd nahm
er ihn zwischen die Finger, rollte ihn zu einem Röhrchen und wieder
auseinander.
Wie spät war es? Verdammt früh. Wie oft konnte man so einen kleinen
Notizzettel falten? Beim achten Knick gab er auf. Sorgfältig bog er das Papier
wieder auseinander und strich es glatt.
Egal. Wenn die Feilers den Job haben wollten, mussten sie sich an
unmögliche Zeiten gewöhnen. Er griff zum Hörer und wählte die Nummer. Nach dem
fünften Freizeichen meldete sich die verschlafene Stimme der Frau. Freund
stellte sich vor und entschuldigte sich für die Unzeit des Anrufs. Könnte sie heute
einen ersten Probetag bei Oswald Freund absolvieren? Um sieben Uhr müssten sie
im Garten sein, damit seine Frau sie einlassen konnte, bevor sie ins Büro ging.
Ohne langes Zögern bejahte Frau Feiler.
Nachdem er aufgelegt hatte, befiel ihn das schlechte Gewissen. So
gab er seinen Vater also ab. Gleichzeitig spürte er, wie seine Schultern
leichter wurden. Nachdenklich starrte er auf die Schreibtischlampe, um deren
einsam leuchtende Birne winzige Insekten schwirrten. Eine Weile beobachtete er
ihren selbstzerstörerischen Tanz. Dann schrieb er ein SMS an Claudia, sie solle sich nicht über den frühen Besuch wundern. Mehr bei einem
späteren Anruf. Noch wollte er sie noch nicht aus dem Schlaf reißen. Der Frau
eines Polizisten im Dienst konnte Telefonklingeln am frühen Morgen panischen
Schrecken einjagen.
Die Dusche hatte ihn nicht aufgeweckt. Er wusste nicht, wann er
zuletzt so müde gewesen war. Vielleicht noch nie in seinem Leben. Bevor er
wieder einschlief, gesellte er sich zum Rest der Mannschaft in den Einsatzräumen.
Beide Zimmer waren voll besetzt. Das neue, für die zusätzlich
angeforderten Kräfte nach dem Rother-Mord, war von Unbekannten bevölkert. Dem
einen oder anderen war er bei Schulung oder Veranstaltungen begegnet. Die
meisten hatten von den Ereignissen in der Villa Köstner gehört oder waren dort
gewesen. Freund kehrte in das erste Zimmer zu Spazier, Varic, Flatz und
Tognazzi zurück.
»Gibt es Neues seit gestern Mittag?«
Marietta Varic kramte in ihren Unterlagen und reichte ihm ein paar
zusammengeheftete Papiere. Auch sie sah müde aus. Wie schaffte sie diese
Sonderkommission als alleinerziehende Mutter zweier Teenager? Er selbst musste
sich erst seit wenigen Monaten um seinen Vater kümmern und kroch auf dem
Zahnfleisch. Als er die Zettel in Empfang nahm, merkte er, wie seine Hand
zitterte.
»Die Autopsieergebnisse von Hermine Rother. Ähnlich wie bei Alfred
Wuster. Auch sie wurde ohne Betäubung operiert. Wahrscheinlich zuerst
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