Menschenteufel
unterschiedlichsten
Verzeichnisse und Dokumente aus sechs Jahrzehnten. Nur für die vergangenen zehn
Jahre gab es einen sauberen Ausdruck über mehrere Seiten, sowohl nach Jahren,
nach Alter als auch alphabetisch nach Namen geordnet. Hatte Petzold das
veranlasst oder war die Heimleitung so ordentlich? Brauchen konnte er sie
ohnehin nicht, die darin Erfassten waren heute Kinder und Jugendliche, was
sollten sie schon mit dem Fall zu schaffen haben? Unter den restlichen
Dokumenten konnte Freund kein System erkennen.
Schon die Vergilbtheit und der Staubgeruch der alten Zettel
erzählten Geschichten. Während er Name für Name in seinen Computer tippte,
malte er sich die Gesichter dazu aus und die Schicksale. In den vierziger und
frühen fünfziger Jahren waren wohl viele Kriegswaisen darunter, deren Eltern
der Front, feindlichen Bomben oder dem Terrorregime der Nazis zum Opfer
gefallen waren. Papierqualität, Schrift und Formulierungen dokumentierten den
Lauf der Zeit. Manche Kinder blieben nur kurz, andere hatten ihre gesamte
Jugend in der Institution verbracht. Freund fand Vermerke über ihre Wege, wenn
sie das Haus vorzeitig verließen. Einige kamen in andere Heime, Glückliche
wurden adoptiert, wieder andere landeten in Erziehungsanstalten oder im
Gefängnis.
Da sie nicht einmal chronologisch geordnet waren, würde er die
Papiere von vorne bis hinten durcharbeiten müssen. Andernfalls hätte er
irgendwo in der Mitte begonnen. Die meisten Heimkinder aus den vierziger oder
fünfziger Jahren hielt Freund heute bereits für zu alt, um die Taten begangen
zu haben, wenigstens, wenn sie allein agierten. Er vermutete einen jüngeren Täter,
geboren in den sechziger oder siebziger Jahren. Viel jünger konnte er nach
Ansicht Freunds allerdings nicht sein, da er dann die notwendige Ausbildung
noch nicht besitzen würde.
So sehr diese Tätigkeit Freunds Phantasie auch beflügelte, nach und
nach erschien sie ihm immer aussichtloser. Wie ein Automat trug er die Daten
trotzdem weiter ein. Tausend Mal schon hatte er während Ermittlungen die Phasen
der Resignation erlebt. Man durfte sich ihnen nicht hingeben. Musste
weitermachen. Sie gehörten dazu. Jeden Stein umdrehen, unter einem hockte
schließlich ein Hinweis, eine Spur oder gar der Täter. Wer sich von dieser
zähen Kleinarbeit entmutigen ließ, hatte bei der Kriminalpolizei nichts zu
suchen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Zweimal hatte er das Gefühl, einen der
eben gelesenen Namen bereits zu kennen, konnte sie aber nirgends zuordnen und
vergaß sie wieder. Aus dem Nebenraum, in dem Petzold arbeitete, drang
gleichfalls nur das leise Klappern der Tastatur. Die Eintönigkeit ließ ihn
seine Übermüdung wieder spüren. Immer öfter fielen ihm die Augen zu, und er
musste sich zwingen, sie wieder zu öffnen.
Freund hatte über eine Stunde gesessen und gerade den Namen Helfried
Kournek, geboren 1961, eingegeben, als das System anschlug. Kournek entpuppte
sich als Kleinkrimineller mit einem seitenlangen Strafregister. Wegen seines
letzten Delikts saß er seit einem halben Jahr eine neunmonatige Haft ab. Freund
versicherte sich kurz, ob der Mann nicht aus irgendwelchen Gründen vorzeitig
entlassen worden war oder Freigang genoss, aber: nein. Außerdem besaß er
keinerlei medizinische Fachkenntnisse.
Wäre auch zu schön gewesen.
Weitertippen. Freund konnte seine Augen kaum mehr offen halten. Zehn
Minuten später meldete der Computer erneut einen Treffer. Nachdem Freund die
ersten Zeilen gelesen hatte, starrte er wie elektrisiert auf den Bildschirm.
Er sprang auf, packte den Ordner, lief ins Nebenzimmer und rief
Petzold, ohne anzuhalten, zu: »Kommen Sie mit!«
Während Freund das Auto mit Blaulicht und lautem Folgetonhorn
über eine rote Kreuzung lotste, telefonierte er mit Wagner. Seine Müdigkeit war
verschwunden, seit der Computer vor ein paar Minuten ein Resultat ausgespuckt
hatte. Hinter ihm schlängelte Marietta Varic einen zweiten Einsatzwagen über
die verstopfte Kreuzung.
»Denk an Doktor Bliloreks Hypothese, über die wir früher gesprochen
haben!«, rief Freund in das Mikrophon, um die Sirene zu übertönen.
Wagner war sauer, dass Freund aufgebrochen war, ohne ihn vorher zu
informieren, und noch stinkiger, weil Freund Varic und Spazier mitgenommen
hatte. Doch die stichhaltigen Indizien konnte auch er nicht leugnen.
»Komm selber auch und bring ein Einsatzteam mit!«, sagte Freund nun
in Normallautstärke, nachdem er vorübergehend wenigstens das
Weitere Kostenlose Bücher