Menschenteufel
verwissenschaftlichten Westler das seit
ein paar Jahrhunderten bloß vergessen, oder hatten die Errungenschaften der
modernen Technik wie Datenströme und Verkehrsmittel, die Wissen, Gedanken,
Bilder und Töne innerhalb von Hundertstelsekunden in jeden Winkel der Erde
schaffen, erst zu jener Verwirrung und Unübersichtlichkeit der Welt geführt,
unter der Freund gerade litt? Der ganze Fall war mittlerweile so komplex, dass
er die vielen verschiedenen Fäden kaum mehr alle behalten konnte.
Wahrscheinlich beides, dachte er und wischte sich die Müdigkeit aus dem
Gesicht.
Als er die Augen wieder öffnete, stand eine Gestalt in seinem
Zimmer, der ein bandagiertes Gesicht auf dem Hals saß und ein hübsches buntes
auf der Brust. Das obere wurde gekrönt von einem bizarren Diademkäppchen mit
schwarzen Krakeln. Unter den Armen hielt sie zwei Ordner, die sie auf Freunds
Tisch legte, bevor er überhaupt etwas sagen konnte.
»Ich habe die Listen«, erklärte das bandagierte Ungetüm stattdessen
mit einem Mund, auf dessen Oberlippe zwei dicke schwarze Fliegen hockten. Jetzt
erst erkannte Freund in der rätselhaften Kopfbedeckung ein handbeschriebenes
Schild.
Ich bin Inspektorin Lia Petzold von der Wiener
Polizei und wurde bei einem Einsatz vergangene Nacht verletzt. Danke der
Nachfrage, es geht mir den Umständen entsprechend gut.
Petzold bemerkte seinen Blick und erklärte: »Mir gingen die
ständigen Fragen auf die Nerven. Wie siehst du denn aus? Was ist denn mit dir
passiert? Nun, Ihnen muss ich es ja nicht erklären.«
Die Fliegen auf ihrer Lippe waren Nähte und ließen sie lispeln.
»Nein, danke. Lassen Sie mich bloß in Frieden.«
»Sehr charmant! Hier sind die Listen«, antwortete Petzold und legte
die Ordner auf seinen Tisch.
»Was für Listen?« Gleichzeitig mit Petzolds Antwort fiel es ihm
wieder ein. Er hatte sie aufgefordert, Kinder-, Mitarbeiter- und
Spenderverzeichnisse des Kinderheims Mariabitt zu besorgen, und war darüber mit
Obratschnik in Streit geraten. Genauso wie vor einer halben Stunde über Doktor
Bliloreks Theorie. Obratschnik hatte sie zornig abgelehnt. Wagner zog sie
immerhin in Betracht, wollte sie aber noch nicht konkret verfolgen. Die Listen
kamen wie gerufen.
»Wir haben das dritte Opfer gefunden«, sagte Freund.
»Der im Keller auf dem Tisch lag?«
Freund nickte.
»Damit war zu rechnen«, antwortete Petzold ohne Zeichen von
Überraschung. »Wo?«
»Im Schaufenster eines aufgelassenen Blumengeschäfts im neunten
Bezirk.«
Er sah Petzold nachdenken, aber zu keiner Antwort kommen.
»Haben die Sie schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen?«
»Was ist denn überhaupt passiert?«
»In Köstners Halle hat sich irgendwann Ihr Bewusstsein
verabschiedet. So wie es aussieht, haben Sie den Spitalsbesuch gebraucht.«
»Ein paar Knochen sind angeknackst, nichts Schlimmes. Wirklich
dramatisch war, was ich dort erlebte, als ich wieder aufwachte.«
Sie erzählte von dem Mordversuch an Short und ihrer Verfolgungsjagd.
Als sie geendet hatte, fragte Freund: »Sie ziehen Katastrophen wohl an. Sind
die Haare schon im Labor?«
»Ja, aber auf das Ergebnis muss ich wohl noch eine Weile warten. Zur
Zeit ist alles mit der Spurenanalyse von heute Nacht beschäftigt. Gibt es da
Neues?«
»Nicht unmittelbar. In den Ermittlungen zu unseren drei Mordfällen
gibt es ein paar Erkenntnisse, aber nichts Aufschlussreiches oder
Weltbewegendes.«
»In einem Schaufenster«, murmelte sie und versuchte dabei die Lippen
so wenig wie möglich zu bewegen.
»Wir haben jetzt auch einen Verdacht, warum er ausgerechnet dort
abgesetzt wurde.«
Auf Petzolds fragenden Blick fuhr er fort: »Uns war von Beginn an
klar, dass die Orte, an denen er seine Opfer aufstellt, wichtig sind.
Schließlich wurden die beiden anderen auch schon der Öffentlichkeit
präsentiert, metaphorisch gesprochen ins Schaufenster gestellt, wie er es mit
Murnegg-Weiss dann tatsächlich getan hat. Murnegg-Weiss hat früher in dem Haus
gewohnt. Auch das erste Opfer, Alfred Wuster, wurde in der Nähe eines
ehemaligen Wohnorts platziert, genauso wie Hermine Wuster.«
»Natürlich. Gleich gegenüber von Mariabitt«, lispelte Petzold.
Wortlos umrundete sie seinen Schreibtisch. Ohne zu fragen, öffnete
sie den Internetbrowser auf seinem Computer und gab eine Adresse ein. Irritiert
verfolgte Freund ihr Vorgehen, hinderte sie aber nicht daran. Auf dem
Bildschirm erschien eine wirr wirkende Seite voller Text und mit dem Bild einer
Frau in ihren Fünfzigern
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