Menschenteufel
noch einen Gruß zu, bevor sie unter lautem Gejohle in halsbrecherischer
Fahrt den Hohlweg zur Straße hinunterrasten. Claudia trug bereits ihre
Aktentasche unter dem Arm. Bevor Freund etwas sagen konnte, versiegelte sie
seinen Mund mit einem Kuss und verschwand gleichfalls zwischen den Heckenrosen.
Es war eine Schnapsidee. Er würde sich zum Affen machen. Ziemlich
sicher brach er einige Gesetze. Setzte Beamte für private Zwecke ein. Aber er
befand sich in einer Ausnahmesituation. Morgen kam wieder die Pflegerin.
Also dann. Freund fasste seinen Vater sanft am Ellenbogen.
»Komm, wir machen einen Ausflug in die Stadt. Du hast noch nie
gesehen, wo ich arbeite.«
Kühlschränke in fremden Küchen
»Der Teufel von Wien«.
Für so eine Schlagzeile hatte Petzold also die Zeitung abonniert,
die von sich behauptete, Österreichs führendes tägliches Druckwerk zu sein.
Schon am Vorabend hatte sie einen kurzen Bericht gehört. Daraufhin hatte sie im
Internet nachgelesen. Die ganze Welt schrieb darüber. Bis in die Onlineausgabe
der New York Times und von Asahi Shimbun hatte es die Kreatur geschafft.
Petzold saß an ihrem Küchentischchen und trank den zweiten Espresso.
Die eigentliche Sensation war das Foto. Die Entdecker der Leiche mussten es vor
der Ankunft der Polizei mit ihrem Fotohandy geschossen haben. Unscharfe Flecken
und Konturen im Dämmerlicht. Und doch oder deshalb heizte es die Phantasie mehr
an als jedes gestochen scharfe Bild. Der schwarze Balken über den Augen diente
nur als Alibi.
Angeekelt und zugleich fasziniert starrte Petzold auf das Bild. Die
Kronenzeitung hatte es bereits am Vorabend exklusiv abgedruckt. Diesmal hatte
auch ihr Blatt nachgelegt und für die Morgenausgabe einen neuen Titel
geschafft. Den mangelnden ethischen Standard der Zeitungen fand sie empörend.
Noch entsetzter war sie über sich selbst. Magnetisch zog das Bild ihren Blick
immer wieder an. Und sie gab dem nach.
In Kunstausstellungen hatte sie Ähnliches gesehen. Ihr
unerbittliches Gedächtnis erinnerte sich an die Arbeiten des deutschen
Künstlers Thomas Grünfeld. Seine Skulpturen waren Mischungen aus
unterschiedlichen Tieren. Damit war er nicht so weit gegangen wie der Chinese
Xiao Yu. Seine Montage aus Embryokopf und Möwenflügeln hatte vor wenigen Jahren
einen Skandal entfacht. Die Frage war aufgetaucht, ob Kunst durfte, was der
Wissenschaft verboten war. Petzold fand sie unsinnig. Es war eine Sache,
lebendige Mischwesen zu schaffen, und eine ganz andere, dieses Thema in einer
Ausstellung zu dramatisieren. Diskutieren ließ sie mit sich, ob es vertretbar
war, Teile eines echten menschlichen Embryos dafür zu verwenden. Persönlich
fand sie es abscheulich.
Bei der Chimäre aus dem Prater hatte der Täter sicher nicht an Kunst
gedacht. Aber woran dann?
Entweder hatten die Kollegen noch keinerlei Hinweise auf den Täter.
Oder sie gaben nichts an die Medien weiter. So blieb die Spekulation. Der irre
Triebtäter war nur eine davon. Bis zu ihrer Ausbildung hatte Petzold die
abwegigen Mordinszenierungen in Filmen oder Romanen für die Ausgeburten
phantasievoller bis kranker Autoren gehalten. Die realen Vorbilder dafür konnte
man an zwei Händen abzählen, und sie kamen meist aus Amerika. So hatte sie
gedacht.
Die Bilder der Forensikkurse und die Erzählungen der Vortragenden
belehrten sie eines Besseren. In good old Europe pflegte man nur einen anderen Umgang mit der Öffentlichkeit. Je nach Standpunkt
konnte man es mehr Pietät oder weniger Offenheit nennen.
Dabei kannte auch Österreich Mörderstars. Der
Prostituierten-Serienkiller Jack Unterweger hatte sich vor allem selbst in
Szene gesetzt. Als mustergültig resozialisierter »Häfenliterat« und »Knastpoet«
war er Anfang der neunziger Jahre umschwärmter Liebling der Wiener Society und
Intellektuellenszene gewesen. Währenddessen beging er wenigstens neun Morde an
Prostituierten in Österreich, Tschechien und sogar den USA .
Von den anderen Fällen hörte Petzold erst bei der Polizei. Der
Allgemeinheit hatten die Behörden oft nur die Tatsache des Mordes mitgeteilt.
Über die grausigen Details schwiegen die Beamten. Doch es gab sie, und wie! Das
Undenkbare war nicht nur in fernen Kontinenten zu Hause. Es hauste mitten unter
uns. Kühlschränke in fremden Küchen konnte Petzold eine ganze Zeit lang nur mit
heimlichem Schaudern öffnen.
Die Gestaltwandlung des Toten öffnete natürlich einer weiteren
Phantasie Tür und Tor – und Zeitungsseiten. Alle Jahre
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