Menschenteufel
man genug Schatten, in dem man
sich die meiste Zeit bewegen kann.«
»Wir werden sehen. Die Kollegen sind bereits unterwegs und befragen
die Anrainer. Davon gibt es ja genug.«
Allein vier Zinshäuser hatten eine gute Aussicht auf die Stelle.
Jenseits des Parkplatzes standen an der Linken Wienzeile wenigstens zwei
Dutzend weitere. Von dort benötigten mögliche Beobachter jedoch ein Fernglas,
wollten sie auf dieser Wienflussseite etwas erkennen.
»Er hat es übrigens wie beim ersten Mal gemacht«, sagte Wanek
beiläufig. »Das Opfer lebte noch, als es operiert wurde. Auf jeden Fall während
der Amputation beider Arme und auch noch beim Annähen der Flügel.« Sie beugte
sich noch weiter über die Verbindungsregion von Mensch und Vogel. »Und hier ist
auch noch Blut geflossen.«
»Wie bitte?«
In Obratschniks Gesicht erkannte Freund das gleiche Entsetzen, das
er beim ersten Mal selbst empfunden hatte.
»Wir haben das nicht an die Öffentlichkeit kommuniziert«, erklärte
er. »Täterwissen, du verstehst.«
Obratschniks Stimme bebte. »Die Frau hat noch gelebt, als man ihr
das antat?«
»Das erste Opfer auch. Und er war nicht betäubt. Wie lange ist sie
tot?«, fragte Freund.
»Die Totenstarre ist noch nicht eingetreten. Also erst wenige
Stunden«, antwortete Wanek.
Sprachlos starrte sein Kollege auf die sachte schwingende Kreatur.
Nach einer langen Minute öffnete Obratschnik die Tür des Korbes und stieg ohne
eine weiteres Wort die Leiter hinab. Freund verfolgte seine breiten Schultern
und die Halbglatze, bis Obratschnik die Füße auf den Boden setzte.
»Ihre Haare bei Wuster waren ein Hinweis. Haben wir etwas übersehen,
das uns rechtzeitig zu ihr hätten führen können?«
Wanek wandte sich zu ihm um. »Ich nicht.«
»Entschuldigung. So habe ich es nicht gemeint.«
Vorsichtig steuerte er sie auf den Boden zurück.
»Solange keine eindeutige Identifizierung vorliegt, bleibt es
mein Fall«, beharrte Obratschnik.
Da waren sie wieder, die kleinlichen Eifersüchteleien, ärgerte sich
Freund. Was im Fernsehen gern einfach Mordkommission genannt wurde, bestand bei
der Wiener Kriminalpolizei eigentlich aus der Kriminaldirektion Eins mit ihren
drei eigenständigen Abteilungen, den Gruppen Gewalt Eins bis Drei. Jede
bearbeitete ihre eigenen Mordfälle und schweren Gewaltverbrechen, gemeinsam
wechselten sie sich mit der Bereitschaft ab. Diese Nacht war Obratschnik dran
gewesen und witterte nun seine Chance, in dem spektakulären Fall mitzumischen.
Zumal er Leiter seiner Gruppe war, während die Neubesetzung dieses Postens in
Freunds Gruppe noch ausstand, er im Rang also höher stand als Freund.
Sie standen neben dem Feuerwehrwagen und schauten mit allen anderen
nach oben. Zwei Spurensicherer in weißen Overalls warteten im Leiterkorb
darauf, dass einer ihrer Kollegen den Knoten am Fahrradständer löste.
»Habe ich nichts dagegen, Rudi. Solange ihr uns alle Erkenntnisse
sofort übermittelt. Diese und die Leiche aus dem Prater sind offensichtlich
Opfer desselben Täters. Oder derselben Tätergruppe. Dir ist klar, was das
bedeutet. Wir haben es mit dem Beginn einer Serie zu tun. Was heißt Beginn, wir
sind bereits mittendrin!«
Freund war bewusst, dass der Fall eine neue Dimension erreicht
hatte. Bereits jetzt wieselten zwei Dutzend Journalisten außerhalb der
Absperrung umher. In wenigen Stunden, vielleicht schon Minuten würden die
ersten Bilder erscheinen, zuerst im Internet, später im Fernsehen und in den
Zeitungen. Die Medien würden die Polizei in der Luft zerreißen. Warum konnte
dieser zweite Mord nicht verhindert werden? Sind weitere Opfer zu erwarten? Wie
viele Beamte sind an den Ermittlungen beteiligt? Welche Konsequenzen gibt es
für die Verantwortlichen, angefangen bei der Polizeispitze?
Er wunderte sich ohnehin, dass noch keiner von ihnen aufgetaucht
war. Oder hatte er sie im immer größer werdenden Trubel übersehen? Gaben sie um
die Ecke bereits die ersten Interviews?
Der Knoten war gelöst. Langsam sank der Körper auf die
bereitgestellte Bahre. Obratschniks Bemerkung angesichts der Leiche kam Freund
in den Sinn. Dann solltet ihr aber schneller sein als bei
dieser hier. Der Tod Hermine Rothers hatte die Karten in diesem
schmutzigen Spiel neu gemischt. Die Soko würde noch einmal massiv verstärkt
werden. Obratschnik witterte seine Chance. Wer immer die Verbrechen aufklärte,
würde in Zukunft zu den bekanntesten und profiliertesten Ermittlern des Landes
gehören. Keine schlechten
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