Mephisto
Drohungen und Prahlereien? Las er die Zeitungen, die beschönigten, verschwiegen, logen und noch genug des Entsetzlichen verrieten? Kümmerte er sich um das Schicksal der Menschen, die er früher seine Freunde genannt hatte? Er wußte nicht einmal, wo sie sich befanden. Vielleicht saßen sie an irgendeinem Caféhaustisch in Prag, Zürich oder Paris, vielleicht wurden sie in einem Konzentrationslager geschunden, vielleicht hielten sie sich in einer Berliner Dachkammer oder in einem Keller versteckt. Hendrik legte keinen Wert darauf, über diese düsteren Einzelheiten unterrichtet zu sein. Ich kann ihnen doch nicht helfen: dies war die Formel, mit der er jeden Gedanken an die Leidenden von sich wies. Ich bin selbst in ständiger Gefahr – wer weiß, ob nicht Cäsar von Muck morgen schon meine Verhaftung durchsetzen wird. Erst wenn ich meinerseits definitiv gerettet bin, werde ich anderen vielleicht nützlich sein können!
Nur widerwillig und mit einem Ohr hörte Hendrik zu, als man ihm von den Gerüchten Mitteilung machte, die über das Schicksal Otto Ulrichs' im Umlauf waren. Der kommunistische Schauspieler und Agitator, der sofort nach dem Reichstagsbrand verhaftet worden war, habe mehrere jener grauenhaften Prozeduren, die man ›Verhöre‹ nannte und die in Wahrheit unbarmherzige Folterungen waren, auszustehen gehabt. »Das hat mir jemand erzählt, der im Columbiahaus in der Zelle neben Ulrichs untergebracht war.« So berichtete mit angstvoll gedämpfter Stimme der Theaterkritiker Ihrig, der bis zum 30. Januar 1933 zur radikalen Linken gehört hatte und aggressiver Vorkämpfer einer streng marxistischen, nur dem Klassenkampf dienenden Literatur gewesen war. Nun stand er im Begriff, seinen Frieden mit dem neuen Regime zu machen. Wie sehr hatten alle Schriftsteller, die einer bürgerlich-liberalen oder gar einer nationalistischen Gesinnung verdächtig waren, einst vor Doktor Ihrig gezittert! Er, der wachsamste und unnachsichtigste Priester einer marxistischen Orthodoxie, hatte sie mit dem großen Bannspruch belegt, hatte sie verdammt und vernichtet, indem er sie als ästhetizistische Söldlinge des Kapitalismus denunzierte. Der rote Literaturpapst war nicht geneigt gewesen, zu nuancieren und feine Unterscheidungen zu treffen, seine Meinung war: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, wer nicht nach den Rezepten schreibt, die ich für die gültigen halte, der ist ein Bluthund, ein Feind des Proletariats, ein Faschist – und wenn er es noch nicht weiß, dann wird er es von mir, dem Feuilletonchef des ›Neuen Börsenblattes‹, erfahren. – Doktor Ihrigs kategorische Urteile wurden von allen, die sich zur linken Avantgarde rechneten, heilig ernst genommen, obwohl sie in den Spalten einer schwer kapitalistischen Zeitung erschienen. Denn zu jener Zeit liebten es die Börsenblätter, sich den Scherz eines marxistischen Feuilletons zu leisten – es gab eine pikante Note und konnte niemanden ernstlich stören. Des Lebens Ernst herrschte erst im Handelsteil. Unter dem Strich – wohin kein seriöser Geschäftsmann jemals schaute – durfte ein roter Papst sich austoben.
Doktor Ihrig hatte sich jahrelang ausgetobt und war zu einer der entscheidenden Instanzen in allen Dingen marxistischer Kunstbetrachtung geworden. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, legte der jüdische Chefredakteur des ›Neuen Börsenblattes‹ sein Amt nieder. Doktor Ihrig aber durfte bleiben, da er nachweisen konnte, daß alle seine Ahnen, väterlicher- wie mütterlicherseits, ›arisch‹ waren, und daß er niemals einer der sozialistischen Parteien angehört hatte. Ohne lange zu zaudern, verpflichtete er sich, das Feuilleton des ›Neuen Börsenblattes‹ von nun ab im selben streng nationalen Geiste zu redigieren, der jetzt die Spalten des politischen Teils erfüllte und noch bis in die ›Gemischten Nachrichten aus aller Welt‹ spürbar war. »Gegen die Bürger und Demokraten bin ich ja sowieso immer gewesen«, sprach Doktor Ihrig schlau. Wirklich konnte er, wie bisher, weiter gegen den reaktionären Liberalismus‹ wettern – nur das Vorzeichen seiner antiliberalen Gesinnung hatte sich geändert.
»Scheußlich, diese Geschichte mit Otto«, sagte der wackere Doktor Ihrig und sah kummervoll aus. Er hatte das revolutionäre Kabarett ›Sturmvogel‹ in vielen Artikeln als das einzige theatralische Unternehmen der Hauptstadt, das Zukunft habe und überhaupt der Beachtung wert sei, bezeichnet. Ulrichs hatte zum intimsten Kreise
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