Mephisto
Wunde sickert ein wenig Blut in das Gras, und nun sind deine Lippen ebenso weiß wie deine leuchtende Stirn.
Weint denn niemand über deinen Sturz, über dies Ende einer so großen, so glühenden und so bitter betrogenen Hoffnung? Wer sollte denn weinen? Du warst beinah immer allein. An deine Mutter hast du schon seit Jahren nicht mehr geschrieben, sie hat einen fremden Mann geheiratet, dein Vater ist ja tot, er ist im Weltkrieg gefallen. Wer sollte denn weinen? Wer sollte denn das Antlitz verhüllen über deine jammervoll vergeudete Jugend, über deinen jammervollen, jammervollen Tod? – So drücken wir dir denn die Augen zu, auf daß sie nicht länger offenstehen und mit dieser stummen Klage, diesem unsäglichen Vorwurf zum Himmel starren. Bist du nachsichtiger, armes Kind, jetzt im Tode, als dich ein hartes Leben es sein ließ? Dann wirst du es uns vielleicht verzeihen können, daß wir es sind – deine Feinde –, die sich als die einzigen über deine Leiche neigen.
Denn dein Schicksal hat sich erfüllt, es ging schnell. Du hast das Ende provoziert, du hast es herbeigerufen. Hättest du sonst andere Knaben – noch unwissendere, noch jüngere, als du selbst einer gewesen bist – um dich versammelt und Verschwörung mit ihnen gespielt? Wem wolltet ihr denn ans Leben? Eurem ›Führer‹ selbst, oder nur einem seiner Satrapen? Ihr meintet, alles müsse ›ganz anders‹ werden – dies war ja von jeher euer großer Wunsch. Die nationale Revolution – so meintet ihr –, die wirkliche, echte, kompromißlose Revolution, um die man euch so schmählich betrogen hatte: nun sei sie fällig und überfällig. Ging nicht sogar ein Brief von euch ab an einen Mann in der Emigration, der ehemals ein Freund eures Führers gewesen war und sich von ihm enttäuscht gefunden hatte, wie ihr?
Alles wurde verraten, natürlich wurde alles verraten, und eines Morgens erschienen uniformierte Burschen in deinem Zimmer, du hattest früher schon mit ihnen zu tun gehabt, es waren alte Bekannte – und sie forderten dich auf, in einen Wagen zu steigen, der unten wartete. Du sträubtest dich auch nicht lange. Man fuhr dich ein paar Kilometer vor die Stadt, in ein Wäldchen. Der Morgen war frisch, du frorst, aber keiner von den alten Kameraden gab dir eine Decke oder einen Mantel. Der Wagen hielt, und man befahl dir, ein paar Schritte spazierenzugehen. Du gingst die paar Schritte. Du spürtest noch einmal den Geruch des Grases, und ein morgendlicher Wind berührte deine Stirn. Du hieltest dich aufrecht. Vielleicht wären die im Wagen erschrocken über den unsagbar hochmütigen Ausdruck deines Gesichtes; aber sie sahen dein Gesicht nicht, sie sahen nur deinen Rücken. Dann krachte der Schuß.
Dem Staatstheater, dessen Bühne du schon seit Wochen nicht mehr hattest betreten dürfen, wurde mitgeteilt, du hättest ein Autounglück gehabt. Man nahm die Nachricht mit Fassung auf und war keineswegs geneigt, ihre Richtigkeit nachzuprüfen. Fräulein Lindenthal meinte: »Schrecklich, ein so junger Bursch. Übrigens hatte ich nie besondere Sympathie für ihn. Er sah irgendwie beunruhigend aus – finden Sie nicht auch, Hendrik? Er hatte so böse Augen …«
Dieses Mal gab Hendrik seiner einflußreichen Freundin keine Antwort. Ihm graute davor, sich das Gesicht des jungen Hans Miklas vorzustellen. Es erschien ihm aber, ob er es wollte oder nicht. Da stand es vor ihm, ganz deutlich in der Dämmerung des Korridors. Die Augen waren geschlossen, auf der Stirne lag Glanz. Die trotzig vorgeschobenen Lippen bewegten sich. Was sprachen sie denn? Hendrik wendete sich ab und floh – rettete sich in den Betrieb des Tages –, um die Botschaft nicht vernehmen zu müssen, die für ihn dieses strenge, vom Tode zauberhaft verschönte Antlitz hatte.
IX
IN VIELEN STÄDTEN
Die Monate vergehen, das Jahr 1933 ist vorüber –: ein großes Jahr, wenn man den Journalisten glauben darf, die ihre Meinung und Gesinnung von einem Ministerium für Propaganda in Berlin diktiert bekommen; das Jahr der Erfüllung, des Triumphes, des Sieges; das Jahr, in dem die deutsche Nation erwachte, glorreich zu sich selbst und zu ihrem Führer fand.
Ein erfreuliches, glänzendes Jahr für den Schauspieler Höfgen, so viel ist sicher. Es begann mit Sorgen, aber es endete in lauter Wohlgefallen. Zuversichtlich und in bester Laune darf Hendrik, der Vielgewandte, das Jahr 1934 beginnen. Er ist der Huld der Mächtigen sicher. Auf die Gnade des Ministerpräsidenten kann er sich
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