Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
Eichhörnchen, die auf der Waldwiese hüpften und tanzten.
Nach der obligaten Ansprache durch die Klassenlehrerin der 4b begann die Aufführung. Lea atmete tief durch. Für die nächsten fünfzig Minuten konnte sie einfach hier sitzen und zuhören, ein Geschenk.
Ein kleiner Teufel huschte über die Bühne.
»Der Teufel, er lässt mich nicht gehen«, hatte Frau van der Neer gesagt. Leas Gedanken suchten nach einem Detail. Irgendetwas war ihr aufgefallen, aber sie kam nicht darauf, was. In Gedanken ging sie die einzelnen Begegnungen durch, wie Ausschnitte eines Kinofilms. Bei ihrer zweiten Sitzung hatte Susanna van der Neer überraschend geordnet gewirkt. Sie hatte Lea vor allem wegen ihrer Schlafstörungen aufgesucht. »Ich benötige sehr viel Schlaf, besonders wenn ich beruflich beansprucht bin.« Auf Leas Nachfrage, welchem Beruf sie nachgehe, hatte Frau van der Neer gelächelt und zum ersten Mal im Gespräch wirklich zufrieden gewirkt. »Ich bin Kuratorin, ich organisiere Ausstellungen für Museen und Galerien. Ich liebe Bilder. Sie erzählen uns viel über die Menschen, wissen Sie.« Sie hatte sich aufrecht hingesetzt und sich über die Haare gestrichen. »Menschen interessieren mich. Besonders, wie sie früher waren, wie sie gelebt, was sie gefühlt und wovor sie sich gefürchtet haben. Furcht und Glück lassen sich in der Malerei besonders gut darstellen.« Ihre Augen hatten geglänzt. »Wissen Sie, Frau Doktor, die Menschen sind heute nicht mehr respektvoll. Anderen gegenüber nicht und sich selbst gegenüber auch nicht. Sie wissen nicht mehr, wie sie beschaffen sind. Ich habe vor drei Monaten eine Ausstellung in Wien mit Bildern der italienischen Renaissance betreut, Werke von Paolo Veronese und Vincenzo Catena. Ein seltenes Vergnügen in der Albertina.«
Lea kannte das Kunstmuseum in Wien unweit des Stephansdoms und war beeindruckt. Wohl nur angesehene Kunsthistoriker wurden mit solchen Projekten beauftragt. Frau van der Neer hatte Leas Interesse registriert.
»Die Menschen auf den alten Gemälden sind eindeutig. Sie sind traurig oder froh, sie leiden oder sind erlöst. Die Künstler strebten früher nach dem harmonischen Entwurf und malten Bilder, die den Menschen nicht nur das Woher und das Jetzt, sondern auch das Wohin zeigen konnten.«
Lea hatte genickt, gebannt von der Leidenschaft, mit der Frau van der Neer sprach. Sie hatte die Praxis vergessen, das Wartezimmer und die psychiatrischen Diagnosen.
»Die Moderne hat die Konfusion in die Gesichter gebracht. Die Moderne zeigt bestenfalls Mehrdeutigkeit oder Zerrissenheit und häufig genug eine plakative Oberfläche. Vergleichen Sie nur die Figuren von Michelangelo und Egon Schiele. Der Mensch als Geschöpf Gottes oder als Kreatur der Welt. Oder nehmen Sie die Bilder von Picasso …«
Die Sätze waren nur so herausgesprudelt, der Eindruck einer depressiven Stimmung war gleichsam weggespült gewesen.
Picasso hatte sie erwähnt. Lea erinnerte sich an eines seiner Bilder, »Les Demoiselles d’Avignon«. Der menschliche Körper aufgelöst in Flächen. Die synthetisch zusammengefügten Gesichter. Frau van der Neer hatte recht. Die Kunst zeigt uns, wie der Mensch sich selbst in seiner Zeit wahrnimmt.
Mitten im Gespräch hatte Frau van der Neer das Thema gewechselt und von einer besonderen Wahrheit gesprochen, einer wichtigen Erkenntnis. Lea hatte mehr darüber wissen wollen, doch mit einem Kopfschütteln hatte Susanna van der Neer ihr jegliche Unterbrechung untersagt. Selbstsicher und hoffnungsvoll hatte sie dabei gewirkt, und Lea hatte den Eindruck gehabt, als redete ihre Zwillingsschwester. Vielleicht doch eine Form von Schizophrenie, ein wenig anders als üblich, aber so etwas gab es sicher.
Lautes Klatschen holte Lea aus ihren Gedanken. Die erste Szene war vorüber. Es wurde hinter einem improvisierten Vorhang für den zweiten Aufzug umgebaut. Die digitalen Kameras der Väter senkten sich und verharrten in der Pauseneinstellung.
Der Vorhang öffnete sich erneut, es wurde geklatscht. Eine kleine Hexe mit verrutschtem Hexenhut erschien und ein kleiner Teufel mit roten Plastikhörnern, einem angeklebten Teufelsschwanz und Turnschuhen unter der Jeans.
»Heia, Walpurgisnacht, heia, heia ho«, sang die kleine Hexe auf der Bühne und reichte dem Turnschuhteufel die Hand. Gemeinsam sprangen sie um ein Feuer aus rotem Krepppapier, das von einer Taschenlampe angeleuchtet wurde.
»Hau ab, du blöder Teufel«, schrie die kleine Hexe den Teufel auf der
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